A–Z Ein unfreiwillig berühmter gewordener Küsser ging vor kurzem von uns. Um so mehr wollen wir uns an die tollsten Knutschereien der Weltgeschichte erinnern, im A – Z
Abbildung ähnlich: Der Matrose George Mendonsa küsste zur Feier des Kriegsendes eine Fremde, wurde dabei geknipst und auf diese Weise unsterblich. Gestorben ist er neulich natürlich trotzdem
Foto: Curto de la Torre/AFP/Getty Images
A
All 22. November 1968. Über die TV-Geräte der USA, eines Hotspots auf dem Provinznest Erde, flimmert der etwas umständliche Kuss einer schwarzen Frau und eines weißen Mannes. Sie gehören als Lieutenant Uhura und Captain Kirk zur Besatzung des Star-Trek-Raumschiffes. In den Südstaaten wird die Folge nicht gezeigt und beim Dreh soll darauf geachtet worden sein, dass sich die Lippen der Darsteller nicht berühren, was Nichelle Nichols, die erste schwarze US-Schauspielerin, die nie eine Hausbedienstete spielte, dementierte. Ein Jahr zuvor hatte Sammy Davis jr. bereits Nancy Sinatra im TV auf die Wange geküsst und die BBC bewegte sich bereits 1959 auf diesem Terrain zwischenethnischen Austausches.
Angesichts der Unermesslichkeit des Alls, in der dieser Pla
chts der Unermesslichkeit des Alls, in der dieser Planet als belebtes Sandkorn kreist, ist das eigentlich nicht der Rede wert. Dass es das doch ist (➝ Männer), liegt an der teilweise wahnhaft überhöhten Selbstwahrnehmung der Sandkornbevölkerung. Marc OttikerBBiblisch „Ey, Judas, warum hast du das gemacht? War es wegen Geld? Warst du vom Teufel besessen? Oder wolltest du deinen lieben Kumpel einfach nur mal küssen?“„Was ist denn jetzt schon wieder los? Musst du immer nur über Probleme reden? Das ist doch schon so lange her. Irgendwer musste es ja mal tun. Jesus küssen. Er war immer nur am Salben und Wasserwandern und Wangehinhalten. Da hab ich mich eben geopfert. Lieber ein Judaskuss als gar kein Kuss (➝ Keusch), oder? Konnte ich doch nicht wissen, dass das so endet. Und seitdem hängen sie überall Kreuze auf. Die Leute sehen immer nur das Negative. Sie könnten doch auch meinen Kuss anbeten. In allen Kirchen sollte ein Bild von Jesus und mir, wie ich ihn küsse, überm Altar hängen. Das sähe viel schöner aus. Ich muss jetzt auflegen, hab gleich ein Date. Mach’s gut, Bussi und bis bald.“ Ruth HerzbergEErwachen Es kann überwältigend sein und findet – wie im Märchen vom Dornröschen – in einem Kuss seinen Höhepunkt. Allerdings sehen Heerscharen von Psychologen (➝ Voyeurismus) sich gerade bei diesem Grimm’schen Sammlerstück von Musen geküsst, die in ihrer Branche wohl „Interpretation“ oder „Deutung“ heißen. Da ist der Kuss das Ende einer Kette bedeutungsschwerer Ereignisse, die davon künden, wie das Dornröschen – gestochen von einer Spindel – blutet und dahinsinkt. Und schon verschwindet sie hinter einer schützenden Hecke. Was ihr geschehen sein mag, darüber rätseln die Psychologen. Dann kommt der Prinz – nach 100 Jahren – angerobbt und schlägt sich zu ihr durch, um sie mit jenem Kuss zu wecken, der aus ihr wieder – oder endlich? – ein lebendiges Wesen macht, nach all den traumatischen Erfahrungen.Übrigens: Bei ➝Männern im Märchen ist das Küssen nicht so hilfreich, wenn es um segensreiches Erwachen geht. Der Frosch wird – entgegen romantisierenden Überlieferungen – nicht durch einen Kuss zum Prinzen, sondern durch einen heftigen Wurf an die Wand. Brachiale Sitten. Magda GeislerFFreundschaft Im real existierenden Sozialismus ging vieles schief, aber beim Knutschen waren die Genossen regelrecht progressiv. Davon zeugt bis heute auf den Überresten der Mauer das Bildnis des sozialistischen Bruderkusses zwischen KPdSU-Chef Leonid Breschnew und SED-Kopf Erich Honecker von 1979, gemalt von Dmitri Vrubel.Um ihre Zugehörigkeit zum Proletariat zu zeigen, sollen sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Männer der Arbeiterbewegung leidenschaftlich geküsst haben. Die Kommunisten machten das zum symbolischen Ritual. Heute küssen sich befreundete Männer kaum noch. Daraus kann nur folgen: Knutschen für den Sozialismus! Konstantin NowotnyIInszenierung Alle glücklich Küssenden ähneln einander, so kann man Tolstois Auftakt zu Anna Karenina abwandeln. Bei Fotografien von Küssen ist das nicht viel anders. Man vergleiche Robert Doisneaus Baiser de l’Hôtel de Ville (1950) mit Eisenstaedts Kuss-Foto vom Times Square. Bei Doisneau allenfalls französisch-eleganter. Ineinander versunken aber wirken beide Paare. „A kiss is still a kiss“ klang es im Film „Casablanca“. Doch nicht immer ist das so, ein Kuss kann Show sein.Die Liebe in Paris: vom Fotografen fürs Publikum gestellt von Schauspielern. Ob die Akteure diese Inszenierung genossen haben? Es wirkt authentisch. Paris ist Innigkeit, sogar als Spiel. Lars HartmannKKeusch Enthaltsamkeit avanciert zum Jungfrauen-Life-Style. Der Kampagne „Wahre Liebe wartet“, 1993 von der politisch einflussreichen protestantischen Kirche Southern Baptist Convention (➝ Biblisch) gegen Aids initiiert, folgen inzwischen Millionen Erzkonservative. Auf pompösen Purity Balls geloben Töchter ihren Vätern öffentlich und mit Silberringen besiegelt Keuschheit. Die versprechen ihrerseits Schutz, bis sich der von Gott bestimmte christliche Ehemann findet.Hinter dem Spektakel steckt die Botschaft, Frauen seien sexuelle Stolpersteine für Männer und Jungen. Die Mehrheit hat bald heimlich Sex. Die Missbrauch und Inzest fördernde Doppelmoral der evangelikalen Sexualdoktrin analysiert Linda Kay Klein inPure: Inside the Evangelical Movement That Shamed a Generation of Young Women and How I Broke Free(2018). Ihr Fazit: Es schürt falsche Scham, Angst. Helena NeumannLLebenswerk Wenn ein Verlag es schafft, dass man an einem Buch wie an einem Magneten hängenbleibt, ohne wirklich den Inhalt zu kennen, dann ist alles erreicht. Das Geld wechselt den Besitzer, der Rest verläuft in einer Art Schattenbahnhof der Literaturwelt. Ob, wie und wie weit man ein Buch liest, das bleibt im Verborgenen. Wahrscheinlich ist das manchmal besser, sagte mir mein Buchhändler.In einer Reportage zu Martin Suters siebzigstem Geburtstag (Claudio Armbruster, 2018) taucht genau das Buch wieder auf. Suter sitzt in einem Strandkorb in Heiligendamm und hält es in den Händen: Sieben Küsse von Peter von Matt.Wenn man es versucht zu lesen, wird einem schwindlig, hätte man doch nicht gedacht, ein Literaturwissenschaftler könnte so genau diesen Moment der Körperverbindung verschriftlichen. Von Matt seziert Küsse der Weltliteratur und man denkt sich: War ich bei meinem ersten Kuss (➝ Zunge) auch so angestrengt verwirrt hinterher? Jan C. BehmannMMänner Der erste schwule Kuss im deutschen Fernsehen fand 1987 in der Lindenstraße statt. Drei Jahre später küssten sich die Rollen Carsten Flöter und Robert Engel erneut. Daraufhin bekamen die Schauspieler Georg Uecker und Martin Armknecht unzählige Protestbriefe, Beschimpfungen, Morddrohungen. Dennoch schätzt Uecker die Ereignisse rückwirkend als wichtig ein (➝ All), denn unter all den Reaktionen fanden sich auch positive Rückmeldungen und Liebesbriefe. Zudem hätte er von vielen jungen Menschen erfahren, dass sie den Anlass nutzten, um über ihre eigene Homosexualität zu sprechen. Produzent Hans W. Geißendörfer wurde 2005 vom Schwulen Netzwerk NRW mit der Goldenen Kompassnadel geehrt.Elke AllensteinPPoster Der Kuss im Zeitalter seiner unendlichen Reproduktion. In meinem früheren Leben verkaufte ich Poster. Aus den Katalogen mit drölfzig Millionen Kunstdrucken und Fotografien (➝ Inszenierung) wählte jeder dritte Kunde stilsicher Der Kuss von Gustav Klimt. Das Liebespaar in Gold auf Veilchenwiese ist der Bestseller in der Wohnzimmergestaltung. Das hat mehrere Gründe. Erstens geht Jugendstil immer. Zweitens ist es ein romantisches und unverfängliches Motiv, wie die beiden sich da aneinanderschmiegen und der Kuss nur ein Hauch ist. Drittens rätselt die Kunstgeschichte über die Bedeutung des Gemäldes: Geht es um Verschmelzung und Entrückung, Phalluslob und Naturbeherrschung oder um ein Lorbeerblatt? Meinen Kunden war das indes schnurz. Tobias PrüwerRRoyal Der Erbgroßherzog von Luxemburg und seine Braut gaben sich 2012 das „Jo“-Wort. Das heißt „Ja“ auf Luxemburgisch – wer hätte es gedacht. Die Übertragung des ZDF endete schon vor dem Kuss. Guillaume und Stéphanie sind eben nicht Harry und Meghan. Schade, denn es hätte sich gelohnt: Es gab zwei Küsse. Waren sie historisch? Aber jo! Nicht, weil sie so leidenschaftlich waren, sondern weil sie ein historisches Datum markieren. Genau ein Jahr später schritten die Luxemburger zur Wahlurne. Nach 18 Jahren war der eigentliche Herrscher Luxemburgs vom Thron gestoßen: Jean-Claude Juncker. Stéphanie durfte erstmals in Luxemburg wählen. Wem sie ihre Stimme gab, ist nicht überliefert. Marlene BreyVVoyeurismus Während sich niemand an die VMA-Gewinner des Jahres 2003 erinnert, kennt wohl jeder, der damals Puls hatte, die Kussszene der Performance von Madonna, Britney Spears und Christina Aguilera. Jeder? Jeder! Sie war Beweis für die Prüderie amerikanischer Television (➝ All): That moment was shocking! Leider wurde nur ein Schmatzer, den Madonna verteilte, um den Popnachwuchs zu adeln, zum ikonischen Moment. Die Regie entschied nämlich, nach dem ersten Kuss zwischen Madonna und Britney auf ihren frisch getrennten Ex Justin Timberlake umzuschwenken. Der wirkte sichtlich bedient. Kussneid? Mit Timberlake jedenfalls verdoppelte die Regie den Moment des Voyeurismus: Nicht nur wir durften lustvoll oder wahlweise empört zuschauen. Timberlake wurde stellvertretend für uns beim Schauen beobachtet. X-Tina, die sich um ihren Kussmoment bis heute betrogen fühlt, sollte nicht traurig sein. Erst die ins Bild gesetzte Schau(un)lust machte den Moment zur Ikone.Marlen HobrackZZunge Auch im Leben von Normalos gibt es historische Küsse. Jene, die in Tagebüchern stehen. Den ersten Kuss vergisst man nicht, heißt es. Den ersten Zungenkuss verdrängt man, behaupte ich. Oder erinnern Sie sich noch? Eben! Im Film berühren sich zaghaft Fingerspitzen, das Licht ist sanft, der Blick tief. Dann pressen sich Lippen aufeinander. Was in den Mündern geschieht, bleibt im Verborgenen. Nicht so im echten Leben. Hier gibt es unbeholfene Hände, schiefe Blicke – und die Zunge! Kurz nachdem sich die Lippen berühren, erscheint sie auch schon. Nicht zaghaft, sondern zielstrebig. Wer jemals jung war, weiß, was sie nun vorhat: den Propeller. Jene ungestüme, rotierende Bewegung dieses länglichen, von Schleimhaut überzogenen Muskelkörpers, der auf dem Boden der Mundhöhle liegt und nun ans Licht drängt. Köstlich! Marlene Brey
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