A
Ameisenhaufen
Es gibt schätzungsweise zehn Billiarden Ameisen. Würde man die übereinanderschichten, käme ein hübscher Hügel heraus. Aber auch ein einfacher Ameisenhaufen im Wald ist schon ein beeindruckendes Bauwerk: eine Art tierischer Turmbau zu Babel.
Ameisen sind großartige Architekten und Handwerker. Ihre Kolonien sind bis zu zwei Meter hoch und haben einen nochmal so tiefen Unterbau. Die Höhe hängt von der Außentemperatur ab. Je kühler es in einer Region ist, desto höher ist der Bau, um den Ameisenstaat mit möglichst viel Sonne zu versorgen. Weitere Heizquellen sind die Stoffwechselwärme der Tiere und die Vermoderungswärme der pflanzlichen Baustoffe. Und wenn es innen einmal zu warm wird, werden nach außen einfach mehrere Klappen geöffnet. Ein Ameisenhaufen ist also das perfekte Ökohaus – mit angeschlossener Bioentsorgung. In einem Ring von 20 bis 50 Metern werden Schädlinge vernichtet. Zehntausend Stück pro Tag. Mark Stöhr
B
Bachelorarbeit
„Du musst nur maximal 40 Seiten schreiben?“, muss ich mir während meiner Studienabschlussphase oft genug anhören und mir ungläubige bis geringschätzige Blicke gefallen lassen. Oftmals von Magistranden und Diplomanden. „Ja,“, gebe ich dann achselzuckend zurück, „es ist eigentlich keine große Sache.“ Das ist eine Verlegenheitslüge. Ist es nämlich doch.
Die Umfangsdiskriminierung ist nicht berechtigt, der wissenschaftliche Aufwand ist auch bei 30 Seiten hoch. Im Gegenteil: Eine ordentliche Argumentation auf wenig Papier zu entwickeln, ist eine hohe Kunst, die nicht jeder beherrscht. Viele müssen gegen Ende wild kürzen (räusper). Dazu kommt der emotionale Stress, den Abschlussarbeiten genuin mit sich bringen: soziale Vereinsamung, latente Schlafstörungen, gereizte Verstimmung. Zugegeben, diese Zeit geht bei einer Bachelorarbeit schneller vorüber. Sie bietet dafür aber auch weniger Raum, um sich vom Studierendenleben zu verabschieden und auf dem Arbeitsmarkt anzukommen. Juliane Löffler
D
Damm Die Niederlande haben ihren Namen nicht zu Unrecht. Würde man dem Meer nicht mit Deichen und Dämmen Einhalt gebieten, stünde das Wasser in Amsterdam bis in den dritten Stock. 1927 starteten die Niederländer ein wahres Herkulesprojekt, über das sie schon seit dem 17. Jahrhundert nachgedacht hatten: einen 32 Kilometer langen Sperrdamm zwischen Friesland und Nordholland, mitten durchs Meer. Davor lagen viele Experimente, die etwa ergaben, dass Lehm das beste Basismaterial ist.
Täglich 4.000 bis 5.000 Arbeiter bauten dann also den Damm, und alles verlief unproblematischer und schneller als befürchtet. Am 25. September 1933 wurde der Afsluitdijk feierlich mit einem symbolischen letzten Eimer Lehm geschlossen. Zur Landseite hin entstand das IJsselmeer, das bald ein großer Süßwassersee war. Die Fischindustrie dort war zwar ruiniert, aber Amsterdam vor den schlimmsten Sturmfluten geschützt. MS
F
Flughafen
Auf den Spott muss man natürlich nicht lange warten, wenn man einen Großflughafen im Juni 2012 eröffnen will – den Starttermin im Mai aber lieber doch auf März 2013 verschiebt, nur um im August zu erklären, dass man jetzt lieber erstmal gar keinen Termin mehr nennt. Jetzt witzelt man außerhalb von Berlin, dass diese Pleitengeschichte typisch für die Hauptstadt sei. Das ist aber unfair. Denn die Wahrheit ist: Selbst für Berliner Verhältnisse ist der Bau des Großflughafens einfach gigantomanisch, vor allem beim Grad der Peinlichkeit. Jan Pfaff
Fußball
Die jüngere Geschichte Real Madrids ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Florentino Pérez. „Real wurde geboren, um zu siegen!“, rief er der Welt bei seiner Wahl zum Präsidenten 2000 entgegen. Um den spanischen Traditionsklub in der Weltspitze zu etablieren, investierte er in den darauf folgenden fünf Jahren eine halbe Milliarde Euro in den Kader. Die staunende Fachöffentlichkeit wurde Zeuge der „Ära der Galaktischen“, in der Ausnahmespieler wie Zidane, Figo, Beckham, Raúl und Ronaldo den Klub zu acht Titeln schossen und unzählige Gegner geradezu demütigten. Im Winter 2005 trat Pérez überraschend zurück. „Die Galaktischen“ waren Geschichte.
Epigonen gibt es seitdem genug. Neureiche Klubs aus Manchester oder Paris investieren Jahr für Jahr Unsummen, um ähnliche Erfolge einzuheimsen. Doch an die Aura des weißen Balletts aus Madrid werden sie nie heranreichen. Wohl nicht einmal den Madrilenen selbst ist das möglich, für die Pérez seit 2009 wieder fröhlich Spitzenspieler einkauft. ¡Vivan los galácticos! Angelo D’Abundo
G
Geschichtsschreibung
Unter Historikern herrscht noch das Ideal des einsamen Gelehrten, der sich bedingungslos seinem Thema verschrieben hat. Leopold von Ranke verfasste eine neunbändige Weltgeschichte, Theodor Mommsen deckte im Alleingang die römische Geschichte ab. Etwas neuer, aber nicht weniger ambitioniert ist das Hauptwerk Hans-Ulrich Wehlers. Zwischen 1987 und 2008 veröffentlichte er seine fünfbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte mit insgesamt knapp 5.000 Seiten. Von seinem streng sozialhistorischen Konzept, der Bielefelder Schule, das in den Achtzigern state of the art war, ist er dabei nie abgerückt. So bleibt eine beeindruckende Forschungsleistung, die aber schon im Moment ihrer Vollendung veraltet wirkte.
Den Elan hat er aber nicht verloren. Und Wehler findet auch immer noch Anlässe, auf sich aufmerksam zu machen. Sei es, dass er vor einem EU-Beitritt der Türkei warnt, Sarrazin beispringt oder gegen seinen Intimfeind Götz Aly polemisiert. Sebastian Triesch
Gigantomanie
Die Sucht nach Größe ist keine moderne Erscheinung, man denke nur an den Turmbau zu Babel. Allerdings ist die Gigantomanie im Guten wie im Schlechten das prägende Grundgefühl der Moderne. Technischer Optimismus plus Selbstverliebtheit haben die Moderne-Menschen immer wieder zu Höchstleistungen und maximalem Scheitern getrieben. Dieser Zwang zum Monumentalen zeigt sich vielleicht am deutlichsten in philosophischen Gesten wie Hegels hoch auftürmender Systemphilosophie, in der zur totalen Methode zugespitzten Einheitswissenschaft des Wiener Kreises oder in Heideggers überm Abgrund baumelnder Seins-Deuterei. Scham vorm eigenen Werk diagnostizierte Günther Anders angesichts des monströsen Schaffens. Dass dieses nicht immer reibungslos gelingt, ist das Entlastende an der viel gescholtenen Postmoderne. Tobias Prüwer
M
Musik
Wenn man nach Megaprojekten in der Popmusik googelt, kommt man als erstes zu einem wirklich megalangweiligen Projekt: dem gemeinsamen Album der Rapper Bushido und Sido.
Mega im Sinn von „wegen Größe erwähnenswert“ ist was anderes, etwa das Album Chinese Democracy der Band Guns N’ Roses: eines der teuersten und in der Produktion langwierigsten Alben überhaupt. Von 1994 bis 2008 will Sänger Axl Rose, der trotz weißer Radlerhosen einst berühmt war, daran herumgeschraubt haben. 14 Jahre lang war von der Entstehung die Rede, neun Jahre war der Titel bekannt, zehn Jahre kündigten Band und Labels regelmäßig die Veröffentlichung an. Die Verzögerungen am neuen Berliner ➝Flughafen sind poplig dagegen. Dass Chinese Democracy unterirdisch geriet, darf aber als Warnung an alle Bauprokrastinierer gelten: Auch schlecht Ding will Weile haben. Klaus Raab
P
Palatul Parlamentului
Der in Bukarest stehende rumänische Parlamentspalast ist das größte Gebäude Europas und der größte administrative Bau der Welt. Unter Nicolae Ceaușescu 1983 begonnen und fast fertig gestellt, hat der Koloss dessen Herrschaft überdauert und beherbergt heute unter anderem beide Kammern des rumänischen Parlaments.
Die Maße: Auf einer Grundfläche von 65.000 Quadratmetern ist der Palast 275 Meter lang, 235 Meter breit, 86 Meter hoch und dazu unterirdisch weitere 92 Meter tief. Marmor aus Siebenbürgen, Samt- und Brokatvorhänge prägen das neo-klassizistische, imperiale Interieur der 5.100 Räume. So imposant ist das Ensemble aus 480 Kronleuchtern und 3.500 Tonnen Kristall, dass Costa Gavras 2002 Szenen für seinen Film Amen hier drehte. Der Palast diente ihm als Vatikan. TP
V
Vermeiden
Jede noch so kleine Sache, die erledigt werden will, kann sich zu einem Megaprojekt auswachsen, wenn man sie lange genug vor sich herschiebt. Und weil Unerledigtes auch nur manchmal mehr Aufwand nach sich zieht, meint „Mega“ selten eine tatsächliche, sondern in der Regel eine gefühlte Übermächtigkeit.
Wenn man Glück hat, erledigen sich die Dinge aber auch von selbst. So lädt ein Beitrag übers Vermeiden ja gerade dazu ein, keinen zu schreiben: „Aufgrund erfolgreichen Vermeidens fehlt an dieser Stelle der Artikel darüber.“ Vielleicht wäre es auch deswegen konsequent, den Beitrag auszusitzen, weil vermutlich schon alles über Prokrastination geschrieben wurde? Aber weil trotz neuer Entspanntheit der Verdacht der Unzulänglichkeit bleibt, hab’ ich vorsichtshalber doch was aufgeschrieben. Ulrike Bewer
W
Wörterbuch
Als 1750 die umfangreichste bis dahin zusammengestellte Wissensordnung abgeschlossen wurde, kam das Grosse vollständige Universal-Lexicon auf 68 Bände. Damit übertraf der Herausgeber Johann Heinrich Zedler (1706-51) – er brauchte 22 Jahre – Denis Diderots berühmte Encyclopédie im Umfang um den Faktor vier. Solch ein Riesenwerk erschafft man natürlich nicht nur mit Originaltexten: Es war eine gewaltige Kompilationsleistung von 290.000 Artikeln, die sich mit einer Million deutschsprachigen Wikipedia-Artikeln schon messen kann.
Eine andere kolossale Wissensmaschine, nämlich das 32-bändige Deutsche Wörterbuch, wurde 1838 von den Gebrüdern Grimm begonnen, war aber erst nach 123 Jahren abgeschlossen. Es ist das größte Wörterbuch zur deutschen Sprache und sammelt Wortbedeutungen seit dem 16. Jahrhundert. Während Zedler weder „Größenwahn“ noch „Gigantomanie“ kannte, hielten die Grimms fest: „zur gigantenarbeit sind sie befähigt, aber nicht zu der des Sisyphus“. TP
Z
Zeitung
Man möchte sich nicht den Furor ausmalen, der Karl Kraus ergreifen würde, würde er mit Facebook oder Twitter konfrontiert. Die Deregulierung von Sprache dort würde den österreichischen Publizisten aus dem frühen 20. Jahrhundert um den Schlaf bringen. Wahrscheinlich würde er sofort eine Sonderausgabe der Fackel auflegen und sie allein vollschreiben, wie er ja im Grunde fast alle 415 Ausgaben dieser „politisch-satirischen Zeitschrift“ allein vollgeschrieben hat.
„Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens“ lautet einer seiner unzähligen Aphorismen. Und so sezierte er in der legendären Publikation mit der brennenden Fackel auf dem Umschlag seine Gegenwart auch nach sprachlichen Kriterien. 20.000 Seiten erschienen zwischen 1899 und 1936, und auf keiner saß ein falsches Komma. MS
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