Großer Sprung

Anpassungsleistung Wissenserwerb im Alter

Zwei US-amerikanische Außenminister entkamen als Kind jüdischer Eltern durch Emigration den totalitären Wirren Mitteleuropas: Madeleine Albright (in der Clinton-Administration) war 1948 nach dem kommunistischen Putsch in der tschechoslowakischen Republik elf Jahre alt und spricht ein lupenreines amerikanisches Englisch, während Henry Kissinger (in der Nixon- und Ford-Administration) 1938 als 15-Jähriger in den USA eintraf und zeitlebens seinen deutschen Akzent beibehielt. Wechselt man nach dem Abitur oder der Mittleren Reife in eine neue Sprachumgebung, werden Wortreichtum und grammatikalische Kenntnisse trotz aller Anstrengungen hinter dem Niveau der Muttersprache (gemessen am individuellen Bildungsniveau) hinterherhinken. Millionenfach trainierte Anpassungen von sportlichen, musikalischen und sprachlichen Fähigkeiten bewirken eine hohe Aufnahmekapazität in der Kindheit, mit rapidem Abfall in der Pubertät, die auf einem über viele Jahre lang stabilen aber niedrigen Niveau bleibt: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr".

Das wirft entwicklungsgeschichtlich-anthropologisch die Frage nach dem Sinn des verlangsamten Wissenserwerbs im Alter auf. Verlassen wir dazu unsere moderne Leistungs- und Konsumgesellschaft: Der Anthropologe Rob Walker und seine Forschergruppe lebte mehrere Monate unter dem als Jäger und Sammler lebenden Stamm der Ache im östlichen Paraguay. Am kräftigsten erwiesen sich die Männer um Mitte zwanzig, aber waren sie auch die erfolgreichsten Jäger? In der Steinzeit lässt sich der Jagderfolg einfach abwiegen. Und siehe da: Die 40-50-Jährigen brachten die dicksten Affen und meisten Vögel auf die Waage. Offensichtlich, so schlussfolgerten die Autoren dieser Studie, könnte der praktische Nutzen verlangsamten Wissenserwerbs darin liegen, früh Erlerntes unter stabilen Verhältnissen von Klima, sozialer Gemeinschaft und Produktionsverhältnissen zu verfeinern. Der Wissenserwerb kreiste also um die optimale Anpassung an die Lebensverhältnisse.

Für die Steinzeitmenschen war der Pfad zwischen Vergiftung und Verhungern eng. Die alten Chroniken sind voller Schilderungen bizarrer Missgeburten, verheerender Naturkatastrophen, astronomischer Phänomene und plötzlicher Todesfälle, die die bestehende Welterkenntnis ins Katastrophische und geisterhaft Unnatürliche verschoben: "Was ist diß Leben doch. Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum", heißt es in einem Gedicht von Andreas Gryphius.

Der Übergang in eine Gesellschaft mit deutlich verändertem wirtschaftlichen, religiösen, politischen Anforderungsprofil oder die Einführung einer bahnbrechenden Technologie (z. B. Computer) stellt den erwachsenen Menschen vor nicht unerhebliche Probleme (großer Sprung). In der Anpassungsleistung gibt es Unterschiede, denen Generationenerfahrungen zugrunde liegen. Zusätzlich gehört es zum täglichen Leben - um eine banales Beispiel zu wählen - sich in immer kürzeren Zeitabständen in das Display neuer Fahrkartenautomaten oder die neueste Window-Version einarbeiten zu müssen (kleinerer, aber formal unnötiger Sprung).

Der Mensch ist ein konservatives Wesen. Viele Verhaltensweisen basieren auf den in Hunderttausenden von Jahren eingeübten Strategien als Jäger und Sammler. Die "Wissenssprünge", die er in der heutigen Gesellschaft vollziehen muss, um erworbenes Wissen weiter nutzen zu können, sind größer geworden und treten in rascherer Folge auf. Was tun? Die Erwachsenenpädagogik könnte an diesen Vorerfahrungen anknüpfen. Um beim Beispiel des Spracherwerbs zu bleiben: Erwachsene sind keine Agrammatiker, die mit bunten Bildchen gefüttert werden müssten, sondern bringen vorstrukturierte Erfahrungen in mindestens ein bis drei Sprachen mit.

In einer Vergleichsstudie wurde bei erfahrenen Piloten eine bessere Leistung am Flugsimulator gemessen, nachdem diese einige Wochen ein Alzheimer-Mittel, einen so genannten Cholinesterasehemmer, eingenommen hatten. Derzeit läuft eine Vergleichsstudie, die diesen Medikamenten-Effekt an deutlich jüngeren Studenten untersucht.

Vielleicht werden zukünftig neu eingestellte Mitarbeiter in der Einarbeitungsphase, Studenten während der Prüfungsvorbreitung oder Teilnehmer an Schulungskursen kurzzeitig cognition enhancer, so genannte Gedächtnisverstärker, einnehmen (vgl. Freitag vom 30. 4. 2004). Aber auch dann wird man im Wörterbuch nachschlagen, Vokabeln pauken und sich auf seine Improvisationsfähigkeit verlassen müssen.


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