Dieses Spiel wird so gespielt: einer schließt die Augen und sagt laut den Buchstaben A. Den Rest des Alphabets zählt er still ab, bis ein anderer aus der Runde Stop sagt. Der Zähler ruft den erreichten Buchstaben hinaus, und alle müs sen einen Namen mit diesem als Anfangs buch staben in eine Tabelle eintragen. Stadt, Land, Fluß, sind die üblichen Kategorien. Wer als erster alle Felder aus gefüllt hat, schreit erneut Stop und hat gewonnen. Zwar wird das Spiel in dem gleichnamigen Debütroman von Christoph Peters nicht erwähnt, der in diesem Frühjahr Furore machte, aber es könnte als Muster der Textherstellung gedient haben: für Stadt trage man Kalkar oder Niel ein, für Fluß rechts- oder linksrheinisch. Und für Land? D
? Da müßte eigentlich der Name Hanna ste hen. Denn außerhalb von Hanna, so befürchtet der Pro ta gonist Thomas Walkenbach, dreiundreißigjährig und tag träu merischer Kunsthistoriker, außerhalb von diesem Land gebe es ihn gar nicht. Hanna, das traktierte Land von Rolf Dieter Brinkmann bis Botho Strauß, ist aber nicht ab wesend oder gestorben, sondern schläft die meiste Zeit über. Stadt Land Fluß ist ein Heimatroman. Im doppelten Sinne. Heimat ist das, was man zum Studieren verlassen hat und aus großstädtischer Entfernung in der Erinnerung amüsant, melancholisch be schwört. Wohin man keineswegs zurück, aber das man auch nicht dem Untergang preis geben will. Aber Heimat ist auch die Frau, die einen endlich der jugendlichen Verlotterung und Entwurzelung entrissen hat. Beides unver ständ lich. Beides ein großer weicher Körper, der zärtlich sein kann, wenn man sich versteht, darin einzunisten. Obwohl die Verbindung von Literatur und Medizin in der Literatur überwiegend wenig glück lich ausging, scheitert aber auch diese Liebesbe ziehung an der Unfähigkeit des Protagonisten, das Innen leben der Geliebten mehr als ein füllbares Gefäß zu be trach ten. Hanna ist Zahn medizinerin. Und Thomas, der die wichtigsten Sta tio nen seines Lebens durch schmerz liche Zahn arzt besuche markiert sieht, ver liebt sich in Hanna auf dem Behand lungsstuhl. Hanna und Thomas führen kunsthistorische Gesprä che zwischen vier Kronen und drei Amalgam-Füllungen. Obwohl Hanna ihren jüngeren Patienten zu nächst als auf dringlich empfindet, steht für Thomas fest, daß Hanna den Platz seiner Jugendliebe Regina ein neh men und auch ausfüllen kann. Regina ist lesbisch geworden. Und Hanna ist schlicht und linkisch. Warum? Warum ent scheiden Männer, sich in eine bestimmte Frau zu verlieben? Jetzt, gleich, nachhaltig und programmatisch? Ich kenne fünf Sorten von Frauen, sie verteilen sich gemäß des Zwiebeldiagramms: Einige widern mich an, einige inter essieren mich nicht, an den meisten schätze ich irgend etwas, bei wenigen überfällt mich Gier, am seltensten sind die, deren bloße Anwesenheit genügt. Und Hanna? Hanna ge hört zur sechsten Sorte, die alle anderen zusammenfast. Also die optimale Mischung aus Erde und Sex. Peters seziert den Verlauf einer Liebe: die erste Be rüh rung, der Stau der Schüchternheit zur Begierde, der Aus tausch der Lebensgeschichten, das Schweigen nach dem Austausch der Lebensgeschichten, das Verkümmern der Liebe im Alltag, konterkariert vom letzten utopischen Wunsch, sich mit dem Liebesobjekt für immer einzu schließen. Die ser Wunsch ist es, der den Protagonisten auch die Geliebte töten läßt. Am Ende verirrt sich Thomas Walkenbach in der Ausmalung einer Krebser kran kung seiner Frau Hanna, um sie ganz für sich zu haben. Der reale Schluß bleibt offen. Aber zuletzt ver schwin det nicht nur Hannas Innenleben, sondern die gan ze Geliebte in der reinen Anschauung, der Erinnerung ihrer Anwesenheit.Die Mechanik des Erinnerns, sowohl der eigenen Vorge schich te als auch der Zerfallsgeschichte der Liebe, ist es, die den Wunsch der totalen Isolierung, wären die äußeren Bedingungen gegeben, unmöglich macht. Die gleiche Mechanik ist es aber auch, welche die Erinnerung erträg lich und fröhlich werden läßt. Auf dem Niveau von Ingmar Kieseritzkys Tanten- und Beerdi gungs sze narien läßt Peters die erste Heimat entstehen, als Hanna, die großbügerliche zweite, und Thomas eine Reise zu den Eltern antreten. Neun Jahre begleitet der Leser das Paar, und doch bleiben die Orte von Stadt Land Fluß wie im gleichnamigen Spiel austauschbar: Ich hätte zwanzig weitere Jahre in dieser Wohnung verbringen können, ohne daß mir die Stadt, das Viertel, das Haus, die Nachbarn je etwas bedeutet hätten. Was bleibt, ist das Bild der schlafenden Hanna. Deren Le benslauf man zuletzt doch nicht erfährt, die stets früh auf stehen, oft bis zehn Uhr arbeiten muß, sich über Kro nen und Brücken Gedanken macht, kunstgeschichtlichen Spekulationen aufmerksam zuhört und nachts einen an ge nehmen Duft verströmt, auch unter einem visionierten, drohenden Krebstod. Was bleibt, ist die Frage, warum eine junge schöne Frau, schlicht und etwas linkisch, nach lässig die Haare aufgesteckt, überhaupt Zahnmedizin stu diert hat? Wie sagte noch ein Freund: vor der Gülle des Alltags muß man sich Raum erkämpfen. Das tut Stadt Land Fluß mit großem Aufwand. Wie sagte noch ein Freund: ein schöner Roman, mit viel hintergründigem Humor, aber kein literarischer Er folg. Christoph Peters: Stadt Land Fluß. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1999, 278 S., 38,- DM
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