"Pudding ist gestrichen." Jürgen Hodes stellt statt der Leckerei eine Maggiflasche auf den gedeckten Mittagstisch. Den angedrohten Nachtischentzug nehmen die drei Jungen und Mädchen dem 58-Jährigen zwar nicht ab, treiben das Spiel zu seinem Entsetzen aber gleich weiter: "Macht nichts, Maggi is´ auch lecker", grient der kleine Blondschopf Julian und nuckelt begeistert an der Suppenwürze. Als der Pudding endlich da ist, toben die Knirpse längst im Kinderzimmer und im Garten des Mehrgenerationenhauses "Sieben Eichen".
Die Jugendstilvilla in Oldenburg ist eines von 24 Mehrgenerationenhäusern, eine Einrichtung, die es bald vielleicht auch in Bayern und Berlin geben wird, wenn es nach Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen geht. Die einstige niedersä
dersächsische Sozialministerin will ihr Lieblingsprojekt jetzt in ganz Deutschland umsetzen. Union und Sozialdemokraten haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass in den kommenden vier Jahren in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt ein Mehrgenerationenhaus entstehen soll. Die Anschubförderung soll wie in Niedersachsen 40.000 Euro per anno auf fünf Jahre betragen. Insgesamt beläuft sich das Finanzvolumen hierfür auf 88 Millionen Euro. In Niedersachsen hatte die Unionsfrau ihre Idee gleich zum Amtsantritt der schwarz-gelben Landesregierung im Frühjahr 2003 vorgestellt und gegen heftigen parteiinternen Widerstand und eiserne Spardisziplin durchgesetzt: Schon im Oktober 2003 öffnete in Pattensen bei Hannover das erste Vorzeigehaus seine Pforten für alle Generationen. Die neue Ressortchefin, Mechthild Ross-Luttmann (CDU), will das Projekt unvermindert zielbewusst fortsetzen. Ihrem Ministerium liegen bereits 29 weitere Anträge und 200 Anfragen vor.Ehrenamtliche gestalten den Alltag"Ich bin fast jeden Tag hier", sagt der Mann mit der Maggiflasche. Im Mehrgenerationenhaus ist Jürgen Hodes gelandet, nachdem er sich gezielt auf die Suche nach einer ehrenamtlichen Tätigkeit gemacht hatte. Eine städtische Ehrenamtsagentur vermittelte ihn zunächst an eine Blindenzeitschrift, später empfahl sie ihm "Sieben Eichen". 25 Jahre hat der gelernte Groß- und Einzelhandelskaufmann gekellnert. Nach etlichen gescheiterten Bewerbungen hängte der Langzeitarbeitslose die Jobsuche an den Nagel und schaute sich nach einer ehrenamtlichen Tätigkeit um. Jetzt ist er einer der rund 30 Ehrenamtlichen im Alter zwischen 20 und 70 Jahren, die sich in der 160.000-Einwohner-Stadt Oldenburg im Mehrgenerationenhaus engagieren. Sie leiten einen Englisch-Konversationskreis oder eine Plattdeutsch-Runde, Gymnastik- oder Tanzkurse, eine Hebamme bietet morgens eine Stillgruppe an. Der Job von Jürgen Hodes: Er kocht für die Kinder Mittagessen, hilft ihnen gelegentlich bei den Hausaufgaben und versucht, die Rasselbande im Zaum zu halten. Ohne Erfahrung mit eigenen Kindern ist das nicht immer einfach, und die Steppkes wissen, das zu nutzen: Der kleine Paul wetzt blitzschnell ins Zimmer, greift sich eine Handvoll Würfelzucker und ist im Nu wieder verschwunden. Sein "He, so geht das aber nicht", richtet der verdutzte Hodes schon an die zugeknallte Tür. "Der mag so gern Süßes", erklärt er etwas hilflos."Begegnungsstätte für ältere Menschen" steht auf dem Schild an dem weiß getünchten Mehrgenerationenhaus noch. "Für ein neues Schild hatten wir kein Geld", bedauert Christiane Kern, die Leiterin von "Sieben Eichen", den Hinweis auf die Geschichte des Hauses. Bevor die Ministerin von der Leyen Ende des Jahres 2004 aus der Landeshauptstadt Hannover kam, um das Oldenburger Mehrgenerationenhaus zu eröffnen, trafen sich dort ältere Gemeindemitglieder zu Kaffee, Kuchen und Handarbeitsrunden. Weil manche bereits bestehende Einrichtung in Niedersachsen plötzlich zum Mehrgenerationenhaus werden wollte, witterte die sozialdemokratische und grüne Opposition im Landtag "Mitnahmeeffekte". So würden Mütterzentren kurzerhand Angebote für Senioren machen oder die Gemeindeältesten im Kirchenkreis flugs ein paar Kinder einladen, um die Fördermittel zu kassieren. Mit den 40.000 Euro pro Jahr komme man jedoch nicht weit, winkt die Diplom-Pädagogin Kern ab. Um ihre 30-Stunden-Stelle und die übrigen Ausgaben zu finanzieren, sei das Mehrgenerationenhaus zusätzlich auf Spenden angewiesen. Wie es sich nach fünf Jahren komplett selbst tragen soll, wenn die Förderung ausläuft? Die 39-Jährige zuckt mit den Schultern. Den Obolus, den die Eltern der sieben bis acht regelmäßig kommenden Kinder für Hausaufgabenhilfe und Mittagessen entrichten, reicht bei weitem nicht aus.Als "Krabbelstube für Senioren" verhöhnten Gegner die ersten Mehrgenerationenhäuser. Das Oldenburger Projekt sieht sich dagegen als Treffpunkt für alle Bürger, gleich ob alt oder jung, behindert oder nichtbehindert, für Menschen aus allen Kulturen und Religionen. Geöffnet ist es werktags von 9 bis 18 Uhr. Obwohl die evangelische Kirchengemeinde der Träger ist, kommen nicht nur Gemeindemitglieder. Von einer Nutzung durch sämtliche gesellschaftlichen Gruppen kann allerdings nicht die Rede sein, Migranten sind ebenso wenig zu sehen wie Jugendliche. Würden auch Heranwachsende kommen, ließe sich tatsächlich umsetzen, was die Bundesfamilienministerin ein ums andere Mal zum Besten gibt: "Die alte Dame fragt den Schüler die Englischvokabeln ab, dafür erklärt er ihr das Handy." Entsprechend begabte Jugendliche fehlen im Oldenburger Projekt bislang. Doch für ältere Heranwachsende sowie für Kleinkinder will Kern künftig ebenfalls Angebote vorhalten. Kämen auch diese Gruppen, würde die Einrichtung der Philosophie von der Leyens, nämlich Kindergruppe, Jugendtreff, Mütterzentrum, Altenbegegnungsstätte und Beratungsstelle unter einem Dach zu versammeln, recht nahe kommen.Leitbild eines produktiven AlternsDas erklärte Ziel, durch mehr Kontakte zwischen Jung und Alt den Graben zwischen den Generationen zu überbrücken, ist in der Praxis oft nur schwer einzulösen. "Den Kindern fällt es viel leichter, auf die Älteren zuzugehen", sagt Kern. Die Senioren etwa, die seit 25 Jahren um die selbe Uhrzeit zum Kartenspielen kommen, ließen sich kaum aus ihrem Trott herausholen: "Die wollen lieber ihre Ruhe haben." Und so gibt es in den "Sieben Eichen" nicht nur ein Miteinander, sondern auch ein Nebeneinander. Konzept und Wirklichkeit klaffen auch bei manchen Ehrenamtlichen auseinander, räumt Kern ein. Vielen Hilfswilligen falle es schwer, sich auf eigene Kompetenzen zu besinnen, etwas anzubieten, was sie besonders gut können. Stattdessen erwarten sie eine klare Aufgabenzuteilung und fragen: Was kann ich tun?In den Begegnungsstätten soll es um mehr gehen als nachbarschaftliche Hilfe, das Mehrgenerationenhaus wird vielmehr als Fortsetzung der Großfamilie mit anderen Mitteln propagiert. Für Kern bedeutet das: Ein gleichberechtigtes Geben und Nehmen, gegenseitige Verantwortung und Verbindlichkeit. Die Pädagogin bekennt sich klar zum Ideal der Großfamilie - das sei es schließlich auch, was die Ministerin wolle. Die siebenfache Mutter von der Leyen argumentiert durchaus pragmatisch für ihr Lieblingsprojekt: "Die Großfamilie verschwindet, das kann man beklagen, aber es ist eine Tatsache. Damit schwindet aber auch der selbstverständliche Zusammenhalt der Generationen. Erziehungswissen und Alltagskompetenzen gehen verloren. Aber auch Erfahrung, Gelassenheit und Muße der älteren Generation bleiben ungenutzt." Mit den Mehrgenerationenhäusern solle sich das ändern, damit ließen sich "ganz handfeste Chancen nutzen und Probleme lösen", so von der Leyen. Die Begegnungsstätten für Jung und Alt passten genau ins "Leitbild eines produktiven Alterns". Voraussetzung für das Nutzen der Potenziale der Senioren sei allerdings: Ältere Menschen müssten als Bereicherung der Gesellschaft gesehen werden.Die Pädagogin Kern sieht den großen Familienverband der Vergangenheit weniger als ein verklärtes Ideal, sondern eher als Notgemeinschaft. In Zeiten, in denen Familien wegen des Berufs immer mobiler sein müssten und auseinandergetrieben würden, sei es nicht das Schlechteste, sich daran zu orientieren. Füreinander einstehen, das gebe es im Mehrgenerationenhaus übrigens nicht nur über Generationengrenzen hinweg, sondern auch innerhalb der Ehrenamtlichen, betont Hodes. Als einmal eine Helferin an ihrer Haustür von einem Zeitschriften-Drücker überrumpelt wurde, sei man zusammen zur Polizei gegangen. Damit es in "Sieben Eichen" zwischen Jung und Alt bald eine noch bessere Verbindung gibt, richtet Hodes derzeit in der obersten Etage einen Netzwerkraum ein. Der biete dann neue Möglichkeiten der Begegnung - mit Computern könnten schließlich alle etwas anfangen. Erst muss Hodes aber noch einen Konflikt innerhalb der jüngsten Generation entschärfen: Paul und Julian sind im Kinderzimmer aneinander geraten und brüllen aus Leibeskräften.
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