Grüne Köche, rote Kellner

R2G Damit linke Allianzen möglich werden, muss sich mehr erneuern als nur eine Partei. Letzte Chance: die Europawahl
Ausgabe 44/2018
Die Doppelspitze der Grünen bei der Vorstellung ihres Antrages zum Wahlprogramm für die Europawahl
Die Doppelspitze der Grünen bei der Vorstellung ihres Antrages zum Wahlprogramm für die Europawahl

Foto: Metodi Popow/Imago

Grüner Triumph? Zu diesem Siegesruf, der derzeit in aller Munde ist, fehlt noch einiges. Auch in Hessen hat jenes „bürgerliche Lager“ die Nase vorn, zu dem manche seit Alexander Dobrindts Begriffsübernahme der „Konservativen Revolution“ außer Union, Liberalen und Freien Wählern auch deren Verfechter in der AfD zählen. In Bayern und den ostdeutschen Bundesländern tendieren fast zwei Drittel, in den Flächenstaaten und selbst im Saarland über 50 Prozent zum politischen Spektrum rechts der Mitte. Eine linke Mehrheit besteht höchstens noch in den Stadtstaaten, und auch dort ist sie nur virtuell, weil eine linke Politik in und zwischen den Regierungsparteien praktisch nicht durchsetzbar ist gegen eine Negativkoalition von Gekränkten und Dogmatikern. Noch im letzten Bundestag war eine Mehrheit gegen die Koalition aus Union und FDP vorhanden, aber sie wäre an Gegnern in allen drei Parteien gescheitert. Zu Andrea Ypsilantis Zeiten lag Hessen einmal im Zentrum dieses Sturms.

Ist Rot-Grün, Rot-Rot-Grün oder Grün-Rot-Rot nun endgültig tot? Voraussetzung für eine Renaissance wären der Rückzug aus ideologischen Schützengräben, ein Kräfteverhältnis ohne Schröders Rollenverteilung zwischen rotem Koch und grünen Kellnern und geänderte politische Zeiten.

Letztere erleben wir mit Sicherheit. Die Volksparteien sind keine mehr, Klimawandel und Migration haben neue, hochbrisante Themen ins Zentrum gerückt, die liberale Demokratie und die westliche Werteordnung sind massiv von außen und innen bedroht.

Die Kräfteverhältnisse haben sich vor allem zwischen Sozialdemokratie und Ökologiebewegung verändert, hier kann keiner mehr nach Gutsherrenart die Rollen verteilen. Die Linke ist nicht nur in Ostdeutschland ein Machtfaktor geworden. Die Grünen wissen um ihre strukturellen Schwächen, speziell im Osten der Republik, und werden im aktuellen Hoch kaum überkandideln. Im linken Lager am empfindlichsten getroffen dürfte jedoch die SPD sein, die aus ihrem Tief nicht herausfindet, das sie auch ihren beiden Ex-Partnern zu verdanken hat. Deren Gewinne kamen aus dem linken Lager, während die Sozialdemokraten massiv an die AfD verlieren.

Umverteilen reicht nicht

Für eine linke Allianz neuen Typs müsste zunächst erkannt werden, dass heute für konkrete Politik aus einem ganz anderen Repertoire als dem der klassischen Linken geschöpft werden muss. Umverteilung nach dem linkskeynesianischen Muster ist einerseits überholt und greift andererseits viel zu kurz, wenn es um die weit aufklaffende Gerechtigkeitslücke und das Schicksal diverser prekärer Schichten geht. Der von der SPD betriebene Bildungsaufstieg hat durch die Inflation der Diplome seine Wirkung eingebüßt, während sich die oberen Zehntausend munter selbst reproduzieren. Die Zukunft der Arbeit hängt an der Digitalisierung, der man mit herkömmlichen Mitteln kaum noch Arbeitnehmerrechte abtrotzen kann. Und die Entspannungsallianz mit Russland wird durch Putins aggressive Territorialansprüche und Cyberwar-Aktivitäten dementiert.

Vor allem aber springen Kevin Kühnert und Genossen ebenso wie ihre Vorbilder Bernie Sanders und Jeremy Corbyn in Sachen sozialdemokratischer Erneuerung viel zu kurz, weil sie die ökologischen Fragen unterschätzen und so die Möglichkeit einer gründlich transformierten grünen Ökonomie vergeben. Dafür müsste sich eine europäische Allianz bilden, die engstirnigen Illusionen nationalstaatlicher Souveränität und protektionistischen Trotzreaktionen widersteht, wie sie etwa Wolfgang Streeck von der Sammlungsinitiative „Aufstehen“ an den Tag legt. Eine Allianz, die sich linken Kernaufgaben neu zuwendet: Beschneidung des finanzkapitalistischen Wildwuchses, Vergemeinschaftung von privatisierten Gütern wie Wasser, Wiederaufbau und Ausbau öffentlicher Dienstleistungen, eine europäische Sozialunion, Digitalisierung nach europäischen Werten.

Die Europawahl nächstes Jahr ist wohl die letzte Gelegenheit, eine derart erneuerte Allianz links von der Mitte zu bilden. Derzeit marschieren die linken Kräfte getrennt, wodurch – Alarm! – ein Durchmarsch der extremen Rechten möglich ist.

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