Grund zur Panik

Indien Delhis Luft ist in katastrophalem Ausmaß verpestet. Krebs, Herzinfarkte und Asthma greifen um sich
Ausgabe 48/2019

Es begann mit Diwali, dem großen Lichterfest, das in Nordindien den Winter einleitet – strahlend, elegant und verschwenderisch mit allgegenwärtigem Feuerwerk, das prasselnd durch alle Gassen springt und Delhi in Schwefelgestank hüllt. Das gehört zu Diwali, ohne scheint es nicht zu gehen. Diesmal nahm die alljährliche Luftkrise aber eine neue, bedrohlichere Dimension an als je zuvor. Die Menschen sahen voll Sorge, dass der Diwali-Qualm nicht abzog, sondern immer dichter wurde. Wer atmen musste, dem tränten bald die Augen. Kopfschmerzen und Atemnot griffen um sich. Schwer lag der Smog auf die Stadt und drohte sie zu ersticken.

Die reale Gefahr, wie sie für die Gesundheit der rund 30 Millionen Bewohner Delhis und der umliegenden National Capital Region (NCR) bestand – und weiter besteht –, lässt sich messen. Der World Air Quality Index veröffentlicht seit 2007 in Echtzeit die Werte aller weltweit angeschlossenen Messstationen. Für Delhi und Umgebung sind es 37. Gemessen werden Schadstoffe wie Feinstaub, Ozon, Schwefel- und Stickstoffdioxid, nach Gefährlichkeit für die menschliche Gesundheit kategorisiert und in sechs farblich symbolisierten Stufen abgebildet. Werte zwischen null und 50 (grün) sind unbedenklich, bis 100 (gelb) akzeptabel, bis 150 (orange) gefährlich für Risikogruppen, bis 200 (rot) gefährlich für alle und bis 300 (violett) sehr gefährlich. Werte über 300 (dunkelviolett) werden international als Alarmstufe bewertet. Indien hat seinen Alarmwert auf 500 plus hinaufgeschoben und damit so etwas wie eine „Zusatzkategorie 7“ für sich geschaffen.

Volle Notbremsung

Als Ende Oktober die Feinstaubwerte stetig stiegen, wurde am 1. November, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, der Gesundheitsnotstand erklärt und ein Notfallplan verkündet. Alle Schulen blieben für vier Tage geschlossen, Bauarbeiten und Lkw-Verkehr verboten, Kohlekraftwerke vorübergehend abgestellt. Delhis Chiefminister Arvind Kejriwal ließ fünf Millionen Atemmasken an Schulkinder verteilen. Auf den Straßen durften nach einem bereits früher erprobten Odd-even-Plan abwechselnd nur Pkw mit geraden oder ungeraden Kennzeichen fahren. Aber die Indexwerte sprangen weiter nach oben, immer weiter, unaufhaltsam. Es schien, als probten die Täfelchen der 37 Messstationen auf der Karte von Delhi den Aufstand. Wie in einem unheimlichen Wettlauf hüpften sie – zwei Schritte vor, einen zurück – in Richtung Endstation, um einen Sonntag lang stramm wie die Zinnsoldaten zu stehen: 999 ist der letzte Wert, den ein Display anzeigen kann. In den Messstationen indes kletterten die Zahlen heimlich weiter, bis zum schwindelerregenden Spitzenwert 1.400 – erst dann kam die Wende.

Dass die extreme Luftvergiftung zum Stillstand gebracht werden konnte, hat die Wirkung einer extravaganten Kopfschmerztablette, die temporär Linderung verschafft, ohne die Krankheit zu heilen. Kraftwerke können nicht lange abgestellt, der Verkehr nicht ewig unterbrochen bleiben. Der Smog hat den Alltag auf seiner Seite. Die Messwerte sind in der zweiten Novemberhälfte wieder gestiegen, drängen Richtung Stufe 7. Ob man sich in diesem Jahr nach dem historisch ersten noch einen Zweitalarm leisten oder Alarmmüdigkeit hingeben wird, muss sich zeigen.

Alle Jahre dauert in Delhi die Smogsaison bis Ende Januar, aber nicht nur dort, auch in den Nachbarstaaten Haryana, Punjab und Uttar Pradesh (s. Karte), eigentlich in der ganzen Indus-Ganges-Ebene, die sich am Fuß des Himalaja entlang über den Norden des indischen Subkontinents erstreckt. In der riesigen, 2,5 Millionen Quadratkilometer umspannenden Tiefebene leben etwa 480 Millionen Menschen, fast 40 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Luftaufnahmen dieser Region zeigen im Winter oft eine dicke Dunstschicht, die den Himmel verdunkelt – ein tödlicher Cocktail aus Autoabgasen, industrieller Luftverschmutzung sowie dem Qualm von Kochfeuern. Während sich dieser Smog im Sommer durch den Aufstieg warmer Luft auflöst, verhindert im Winter ein als Inversionswetterlage bekanntes meteorologisches Phänomen, dass sich die Luftschichten mischen. Der Dunst aus Staub und Schadstoffen ist über den Städten wie unter einer Glocke gefangen und bildet mit dem Bodennebel eine immer dicker werdende Schicht. Das erklärt, warum die ersten 30 Plätze einer Auflistung der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Städte mit der gefährlichsten Luft weltweit erfasst, fast nur von indischen Metropolen belegt werden – der Rest von Kommunen in Bangladesch, Pakistan, Nepal und China, Peking gehört nicht mehr dazu.

Geografie ist Schicksal, Umweltverschmutzung nicht. Noch vor ein paar Jahren war Peking in einer ähnlichen Situation wie Delhi, sagt Thomas Smith, Assistant Professor an der London School of Economics, doch konnte es seine Luftwerte inzwischen drastisch verbessern. Ein Hauptproblem waren wie in Indien landwirtschaftliche Verbrennungen, die in China kategorisch gestoppt wurden. Indien sei da eher reaktiv, sagt Smith, Peking hingegen proaktiv. Vorausschauend und vorsorgend ließen sich Probleme verhindern, bevor sie überhaupt entstehen. Man denke an den gigantischen Luftreiniger, mit dem in Peking stündlich 30.000 Kubikmeter verpesteter Stadtluft zu 75 Prozent von Feinstaub befreit würden. Oder an das effektive Konzept zur Verhinderung von Verkehrskonzentrationen, nach dem Autofahrern, die zu einem Verkehrsstau beitragen, automatisch eine Strafgebühr abgebucht wird.

Tod durch Feinstaub

Auch in Delhi gibt es Versuche, die Luftqualität zu verbessern, meist jedoch nicht von der Regierung, sondern dem Supreme Court (SC) initiiert. Sein viel gescholtener „justizieller Aktivismus“ ist oft Motor für kühne Veränderungen. So ordnete der SC 1998 den zügigen Umstieg von Benzin auf Compressed Natural Gas (CNG) für alle öffentlichen Busse an. Wenn inaktive Regierungsstellen mit Anordnungen zur Kooperation gezwungen werden, wird die Staatsmaschinerie zur Marionette. Während des jüngsten Notstands in Delhi waren denn auch Politiker nur Statisten.

Im November 2017 schon nahm sich der Supreme Court die Stoppelfeldfeuer in Haryana und Punjab vor. Jeden Winter brennen hier zwei Millionen Bauern auf über 80.000 Quadratkilometern 23 Millionen Tonnen Pflanzenreste der letzten Reisernte ab, um die Erde für die nächste Aussaat vorzubereiten. Dabei entstehen hochgiftige Nitrogen- und Schwefeldioxide, die nach Ansicht von Forschern ganz erheblich zum giftigen Smog in Delhi beitragen. Der Gerichtshof ordnete an, diese Tradition mit allen nur möglichen Maßnahmen zu beenden – bis heute ohne Erfolg. Viel Geld wurde ausgegeben, für Aufklärung, Subventionen und moderne Maschinen, aber die Felder brennen weiter. Abfackeln ist bequem, kostet nichts, niemand wird bestraft – die Konsequenzen sind verheerend. Zuletzt zeigten NASA-Fotos vom 1. November nahe Delhi gut 2.400 lodernde Stoppelfelder. Es wurde begreiflich, weshalb die Messwerte in der Hauptstadt außer Rand und Band geraten.

Ein dramatischer Anstieg bei Bronchitis, Asthma, Lungenkrebs und Herzerkrankungen sei auf die Schadstoffe in der Luft zurückzuführen, meint Randeep Guleria, Direktor des All India Institute of Medical Science. Toxische Substanzen wie Feinstaub, Nitrogen- und Sulphur-Dioxide, die in die Lunge eindringen und in den Blutstrom gelangen, verursachten entzündete Blutgefäße und verstopfte Arterien, die zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen.

Der Lungenkrebsspezialist Professor Ar- vind Kumar am Ganga Ram Hospital, dessen Patienten noch vor einigen Jahren zu 90 Prozent männliche Raucher waren, beobachtet einen signifikanten Wandel. Mittlerweile seien über die Hälfte seiner Patienten Nichtraucher und um gut 20 Jahre jünger. Heute hätten sogar 16-Jährige schon Lungenkrebs. Kumar führt mindestens ein Drittel seiner Fälle auf die Luft in Delhi zurück. Es gäbe 30-mal mehr karzinogene Stoffe, als das die WHO-Normen zuließen. Nach Untersuchungen des Indian Institute for Technology sterben allein in Delhi und Umgebung jährlich mehr als 10.000 Menschen durch die Feinstaubbelastung einen frühen, oft qualvollen Tod.

Ende 2018 hat das Energy Policy Institute der Universität Chicago die Wirkung von Luftverschmutzung auf die Lebenserwartung untersucht und quantifiziert. Das Ergebnis ist der Air Quality Life Index (AQLI), an dem sich ablesen lässt, dass im Weltdurchschnitt 1,8 Lebensjahre durch Luftvergiftung verlorengehen, mehr als durch alle übertragbaren Krankheiten von Tuberkulose bis AIDS zusammen.

Gesunde Luft ist ein Menschenrecht. Im Juni 2019 nahm die UNO den „Silent Killer“ Luftvergiftung ins Visier, der weltweit pro Jahr sieben Millionen Menschenleben fordert. Dem Zusammenschluss der Climate & Clean Air Coalition (CCAC) sind inzwischen 155 Länder rechtsverbindlich beigetreten, auch Indien. Doch begegnet man dem mit einer Prise Skepsis. Vielleicht, weil der verblüffende Beitrag des frischgebackenen Kooperations-Strategen zum Luftnotstand in Erinnerung ist. „Kein Grund zur Panik!“, rief der Gesundheitsminister den Bürgern zu und feixte auf der Website seines Ressorts: „Knabbert euch gesund – mit Wintermöhrchen!“ Auch Umweltminister Prakash Javedekar trat der Koalition peinlicher Politiker mit einem flotten „Versucht’s mal mit Musik!“ bei. Von dieser Spezies lässt sich wenig Konstruktives erwarten. „Die Staatsmaschine arbeitet nicht“, sagt Arun Mishra, Richter am Supreme Court. „Sie schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Alle sind nur an Gimmicks und Wahlen interessiert.“

Ursula Dunckern ist langjährige Indien-Autorin des Freitag

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