Ostdeutschland, kurz nach der Wende. In den Medien kursieren Gerüchte, kritische Intellektuelle wären von der DDR-Regierung in einem Gulag auf dem Brocken von der Außenwelt abgeschnitten worden.
Eine Nachricht die Tobias Bitterli im Laufe der Jahre immer wieder begegnet, bis er sich entschließt, dem Thema nachzugehen. Der emeritierter Schweizer Professor nutzt dabei die Kontakte seiner früheren Assistentin Christine Moser; sie geht ihm, inzwischen als Professorin in Ostdeutschland tätig, bei seinen Nachforschungen zur Hand, organisiert Treffen, leiert Gespräche an.
Deutscher Mentalitätsspiegel
Als er stirbt wird Moser Bitterlis Nachlass übergeben. Alle erwarten eine letzte Große Arbeit des Emeritus; doch was Moser findet, sind nur seine Recherchen, an denen sie selbst beteiligt war. Aus Briefen, Protokollen und eigenen Kommentaren fügt die ehemalige Assistentin daraus das Puzzle der »Brockenlegende« zusammen.
Eingebettet in diese Geschichte – die Suche nach dem Wahrheitsgehalt einer Zeitungsmeldung – thematisiert der Autor und Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei den bundesrepublikanischen Umgang mit der geistigen Elite der DDR: Waren viele von ihnen vor dem Umbruch 1989/1990 auch in der BRD teils noch hoch angesehen, wurden sie nun als Gefahr für das eigene, jetzt auch im Osten eingeführte System wahrgenommen; Professoren wurden ersetzt und eine neue Ideologie hielt Einzug.
Werner Mittenzwei, der sich besonders mit seinen Arbeiten zu Bertolt Brecht einen Namen machte, geht in seinem neuesten Werk einer Zeit des Umbruchs auf den Grund. Er wirft einen Blick auf die Ost-, gerade aber auch auf die Westdeutsche Gesellschaft zur Zeit der Wende; nicht umsonst trägt das Buch den Untertitel »Ein deutscher Mentalitätsspiegel«.
Nach Ansicht Bitterlis hat die Geschichtsschreibung bisher versäumt, von einem objektiven, differenzierten Standpunkt aus die Zeit der Wiedervereinigung zu analysieren. Das tut auch Mittenzwei in diesem Buch nicht. Die Enthüllung der Legende um den Gulag auf dem Brocken ist lediglich eine Rahmengeschichte für ein Plädoyer.
Durch die Form einer Nachlasszusammenstellung verleiht Mittenzwei seinem alles in allem lesenswerten Prosawerks zwar einen dialogischen Charakter, die vorherrschende Meinung ist aber dennoch unübersehbar: Die früheren ostdeutschen Intellektuellen verdienen mehr Gerechtigkeit – wenn schon nicht zur Zeit der Wende, dann doch wenigstens heute.
Werner Mittenzwei: Die BrockenlegendeFaber & Faber, Leipzig, 2007240 S., 21,90
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