Gürtel oder Hosenträger

Brief aus Halle an der Saale vom Juni 1953 "Deutschland, Deutschland über alles ..."

Im Herbst 1952 wurde in der DDR ein politischer Kurswechsel vollzogen, der die bis dahin geltende Einbeziehung des unternehmerischen Mittelstandes in den Wiederaufbau des Landes revidierte und stattdessen auf eine ökonomische Eliminierung der privaten Warenproduzenten zielte. Parallel dazu sollten mit dem "Feldzug für strengste Sparsamkeit" mehr Produktivität und Rentabilität in den Staatsbetrieben durchgesetzt werden. Die entsprechend veränderten Arbeitsnormen waren größtenteils ohne Konsultation der Gewerkschaften und der Belegschaften beschlossen worden - eine sprunghaft steigende Abwanderung in den Westen schon 1952 und erste Proteste in den Betrieben ab Anfang 1953 waren Symptome der heraufziehenden politischen Krise.

Gegen fünf bewegte ich mich zwischen schlendernden Menschen auf den Hallmarkt zu. Einige versuchten, Parolen zu skandieren, es klang etwas dünn. Alle drängten sich auf dem Bürgersteig. Wer vom Bordstein auf die Straße geschoben wurde, reihte sich später wieder in eine Lücke des Stromes ein, der eher einem Gang zum Fußballplatz glich als einer Demonstration.

Ich erreichte den Hallmarkt durch eine Gasse von der Altstadtseite. Jemand sprach von einer Tribüne herunter. Ich habe ihn nicht verstanden, vernahm nur ein Krächzen aus dem Lautsprecher und mitunter ein Aufgrölen der Menge, als hätte die einheimische Mannschaft ein Tor geschossen. Der Generalstreik sei ausgerufen worden, hörte ich neben mir. Die Arbeiter vom Hydrierwerk würden erwartet. Ein anderer lachte: Die Stadt sei längst umzingelt.

Dann ist plötzlich Krach und Keifen in meiner Nähe gewesen, und drei Frauen haben auf einen flüchtenden Mann eingeschlagen. Das ist ein Spitzel! wurde gerufen, ein Denunziant, dem schon mancher lange Knastjahre verdanke. Festhalten! Einige Männer breiteten die Arme aus. Der Flüchtende hielt erschöpft inne. Er wurde umringt. Aufhängen! hieß es, jawohl, aufhängen, das sei die gerechte Strafe. Ein Strick müsse her, ein Strick! Der Kreis um den Gefangenen drehte sich auf den Pfahl einer Gaslaterne zu. Hat denn niemand einen Strick? Hol doch mal einer einen Strick! Die Aufforderung wurde wiederholt, während andere fortfuhren, den Wehrlosen anzuspucken, zu beschimpfen oder mit weit vorgestreckter Hand zu ohrfeigen. Ist denn wirklich kein Strick da? Ein Mann lief auf den Kreis zu, riß ihn mit seinen Ellenbogen auf. Ihr hab wohl einen Knall! rief er. Laßt doch den Scheißer laufen. Wir machen ihm einen ordentlichen Prozeß. Jemand fragte zwar: Wann denn, wie denn, mit was für Richtern? Als der Flüchtende schon längst verdeckt war von den Körpern, zwischen denen er sich hindurchgewunden hatte, sagte jemand: Man hätte ja auch einen Gürtel oder einen Hosenträger nehmen können.

Die Stimme aus dem Lautsprecher war jetzt deutlicher: Nein, ich ging nicht etwa über die Thälmannstraße, ich ging nicht über die Pieckstraße, ich ging nicht über den Marx-Engels-Platz. Ich ging ... Er nannte die bezeichneten Straßen bei den Namen, die sie früher getragen hatten. Von unten wurde Beifall geklatscht ... Hört! Hört! Ein neuer Redner bestieg das Podium. In seine ersten Sätze hinein brach ein Motorengeheul. Panzerwagen! Ruhe bewahren! forderte der Redner. Aus mehreren Seitenstraßen schoben sich die Kolosse im Schritttempo auf den Platz. Wir kämpfen nicht gegen die Besatzungsmacht, schrie der Redner den Panzern entgegen, auf denen Soldaten saßen und friedfertig und beruhigend abwinkten. Die Panzer drängten sich in die Menge vor. Die Fahrrinne, die sie gruben, schloß sich hinter ihnen zwar, doch der Rand der Menge bröckelte ab. So wollen wir uns jetzt formieren zu einem Zug, rief der Redner, und zum Regierungsgebäude ziehen. Denn wir wollen uns endlich dazu zählen können zur Gemeinschaft der freien, gleichberechtigten Völker. Deutschland, Deutschland, über alles, stimmte er an. Der Chor antwortete ihm: Über alles in der Welt ...

Auf der anderen Seite des Marktes habe ich Demonstranten vorbeimarschieren sehen am neuen Rathaus, vor dem eine lange Postenkette wachte. Noch immer hoben sie Deutschland, Deutschland über alles. Einige Meter weit entfernt sah ich einen Haufen Lachender. Ich erkannte unter ihnen den schmißzernarbten Besitzer einer marktnahen Apotheke. Sie warfen die Arme auf, zitierten den Rütlischwur. Sie riefen es sich selbst und den Köpfen zu, die sich aus den Fenstern der Markthäuser beugten, sie gaben sich ausgelassen, als riefen sie Alaaf! oder Helau! Ich wußte nicht recht, was für eine Freiheit sie meinten. Ich hätte wohl auch gern Freiheit gerufen, fürchtete aber, daß sich meine Freiheit mit der ihren vermengen könnte. Deshalb hielt ich den Mund. Ohnehin wurde jetzt das Geschrei durch ein paar Schüsse beendet, die vom Rathaus herüberkamen. Dicht an mir vorbei schwirrten Querschläger. Ich duckte mich und verließ teils springend, teils auf allen Vieren kriechend den Platz. Der Ausnahmezustand! hieß es. Überall hingen bereits Plakate, die zum Heimgehen und zur Ruhe aufforderten.

Ich benutzte Seitenstraßen, lief neben Laufenden, Schüsse im Ohr, rannte mit luftleeren Lungen, bis ich meinen Weg plötzlich durch zwei Volkspolizisten versperrt sah. Neben mir standen eine schwangere Frau und zwei Männer. Die Schwangere schrie, sie müsse hier durch, sie müsse nachhause, ihre Kinder. Über die Hauptstraße geht niemand, sagte einer der beiden, ein Leutnant, neunzehnjährig, höchstens zwanzig. Er hielt eine Pistole in der Hand, die flatterte. Seine Stimme vibrierte, auch sein Kopf war ziemlich blutleer. Einer der Männer neben mir sagte: Mensch, Kumpel, laß sie doch durch. Er machte einen Schritt auf den Offizier zu. Ich sah Rauch aus der Pistole aufsteigen und die Schwangere zusammenfallen. Dann erst nahm ich den Knall des Schusses wahr und das Wimmern des Leutnants: das habe er nicht getan. Er wandte sich, lief auf ein Haus zu, die zwei Männer und ich hinterher. Ich stolperte, verrenkte mir den Fuß, humpelte erst die Treppe hinauf, als mir die beiden Männer mit eigentümlich betretenen Mienen bereits entgegenkamen. Wo ist er denn? fragte ich. Schon wieder unten, sagten sie. Vor dem Haus lag der Leutnant mit schrägem Genick. Der zweite Volkspolizist und die Angeschossene waren verschwunden. Vielleicht habe ich sie auch übersehen.

s. a.: Uwe Johnson: Leaving Leipsig next week. Briefe an Jochen Ziem. Texte von Jochen Ziem. Transit Verlag Berlin 2002.


Die Woche vor 50 Jahren

6. Juni
In einer Politbüro-Sitzung, in der Walter Ulbricht von Wilhelm Zaisser (Minister für Staatssicherheit) sowie vom Hohen Kommissar Wladimir Semjonow für seinen Führungsstil kritisiert wird, beschließt die SED-Führung grundlegende Änderungen in ihrer Informationspolitik. Außerdem wird eine umfassende Selbstkritik des Politbüros verfasst, die in Moskau vorgelegt werden soll.

7. Juni
Hauptthemen auf einer vom Zentralkomitee der SED veranstalteten Landwirtschaftlichen Konferenz in Berlin sind die Massenflucht der Landbevölkerung und die so entstandene kritische Versorgungslage.

8. Juni
Auf einer ZK-Konferenz werden alle Ersten Bezirkssekretäre über bevorstehende Kurskorrekturen informiert und erhalten entsprechende Instruktionen.

9. Juni
Nach einem Streik im Stahlwerk Hennigsdorf werden fünf Anführer verhaftet. Währenddessen beschließt das SED-Politbüro auf einer Sondersitzung Sofortmaßnahmen im Interesse der Intelligenz, zur Konsolidierung der Staatsfinanzen sowie zum Umgang mit den Kirchen.

10. Juni
Nach einer Ausweitung des Streiks in Hennigsdorf werden die Festgenommenen wieder frei gelassen, zugleich wird eine Aussetzung der Normerhöhung garantiert. Ministerpräsident Otto Grotewohl trifft sich mit Vertretern der Evangelischen Kirche, um den "Kirchenkampf" zu beenden. Ein Forderungskatalog wird akzeptiert, unter anderem die Rückgabe beschlagnahmter kirchlicher Besitztümer besiegelt.

11. Juni
In einem Kommuniqué des SED-Politbüros, verfasst vom Chefredakteur des Neuen Deutschland Rudolf Herrnstadt, werden dem Ministerrat Maßnahmen im Interesse eines höheren Lebensstandards und von mehr Rechtssicherheit empfohlen. Der Ministerrat folgt diesen Vorgaben und beschließt zusätzlich die Rückgabe von zwangsweise enteigneten Privatbetrieben. Auch erhalten zurückkehrende DDR-Flüchtlinge ihre Bürgerrechte zurück.

12. Juni
Nach einer Entscheidung des DDR-Ministerrats werden erste Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge amnestiert. Vor vielen Gefängnissen bilden sich Menschenaufläufe, um die Entlassenen zu empfangen.

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