Gut ohne Ende

Was läuft Über ideale Spannungsauflösungen und die ARD-Miniserie „Das Verschwinden“. Spoiler-Anteil: 5 Prozent
Ausgabe 44/2017

Wenn es im deutschen Fernsehen ganz realistisch werden soll, dann geht’s in die Provinz. Die Großstadt ist was für Illusionen und erfundene Karrieren in der Medienbranche, in der Provinz aber stehen die schicken Einfamilienhäuser oder einfachen Doppelhaushälften, aus denen die deutsche Jugend sich hinaus in die großstädtische Medienkarriere träumt, während die Eltern drängen, Jura oder Informatik zu studieren. Weshalb die vorherrschende Stimmung in der Provinz eine gewisse Traurigkeit ist, was den Eindruck des Realismus verstärkt, schließlich wird – zumindest im deutschen Fernsehen – nichts als so reell empfunden wie schlechte Stimmung.

Hans-Christian Schmids ARD-Miniserie Das Verschwinden spielt in einer fiktiven niederbayrischen Kleinstadt an der Grenze zu Tschechien, und obwohl das Gras noch grün ist, hängt schon über den ersten Bildern bleierne Depression. Michelle (Julia Jentsch) macht als Altenpflegerin Hausbesuche und trägt der 20-jährigen Tochter Janine (Elisa Schlott) eine kerzenbestückte Geburtstagstorte an den Arbeitsplatz. Die Feierstimmung wird im Keim erstickt, denn man teilt Michelle mit, dass Janine gekündigt hat.

Als sie in der Wohnung der Tochter vorbeischaut, tun sich dort seltsame Dinge, die mit Tarik (Mehmet Atesci), dem örtlichen Kleindealer, zusammenhängen. Die Freundinnen der Tochter, Laura (Saskia Rosendahl) und Manu (Johanna Ingelfinger), sind auch irgendwie verwickelt. Abends gehen die drei in die Disko, auch Michelle schaut noch mal vorbei, um sich mit der Tochter zu versöhnen. Am nächsten Morgen ist Janine dann verschwunden. Und erst am Ende wird man erfahren, wohin.

Das ideale Finale einer jeden Serie wird oft mit der Formel „unerwartet, aber wie unausweichlich“ umschrieben. Der Zuschauer soll es nicht erahnen können, zugleich muss es ihm mehr einleuchten als alle selbst erdachten Lösungen. Ob das Ende von Das Verschwinden das erfüllt, darf bezweifelt werden.

Es kommt überraschend, so viel sei zugestanden, aber leider auf eine Weise, die das Erzählte zu einer Art Seifenoper umdeutet. Alles, was vorher sorgfältige Stimmungsbeschreibung unglücklicher Jugend und frustrierter Eltern in der Provinz war, verwandelt sich in saure Moritat über schlimme Mütter, schwache Väter und böse Polizisten. Oder so ähnlich.

Natürlich muss keiner sich das Sehvergnügen von einem als unbefriedigend empfundenen „Ausgang“ verderben lassen. Das Serien-Format hätte sich nie so durchgesetzt, wenn es nicht eigentlich die „Mittelfolgen“ wären – jene Erzählspanne, in der der Anfang geschafft ist, aber das Ende noch weit weg liegt –, die über das Vergnügen entscheiden. Und genau in dieser Phase, die vor allem den Figuren und eben nicht dem dahinjagenden Plot gehört, findet auch Das Verschwinden zu seinen stärksten Momenten. Wie in den Szenen mit der drogensüchtigen Manu und ihren kalt wirkenden Eltern: Man merkt dem frechen Mädchen noch die Empfindsamkeit und Unsicherheit an, die sie zum idealen Opfer der Sucht machen, aber man versteht auch das hilflose Schwanken der Eltern zwischen kumpelhafter Nachsicht und übertriebener Strenge.

Oder Lauras Dilemma, das Tarik so schön als Antonym der „Win-win-Situation“ in „Lose-lose-Lage“ übersetzt: Wenn Laura abends ausgeht, hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrer kranken Mutter nicht beisteht, wenn sie zu Hause bleibt, hat die Mutter ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Tochter zu sehr beansprucht.

So stark in ihrem Mut zur Zwiespältigkeit sind die gezeigten Eltern-Kind-Beziehungen in Das Verschwinden, dass der Krimi-Plot, der die Einzelteile miteinander verbinden soll, zu stören beginnt. Zwar wollten Schmid und sein Co-Autor Bernd Lange das gewohnte Muster durchbrechen und lassen deshalb Janines Mutter Michelle statt die Polizei ermitteln.

Leider strapaziert das Treiben von Michelle, die mit Leidensmiene und achtjähriger Tochter im Schlepptau Kreditkartenmissbrauch aufdeckt und tschechische Crystal-Meth-Labore aushebt, an mancher Stelle die Glaubwürdigkeit. Und die Polizisten bleiben blass, dürfen sie doch immer nur Michelle abwimmeln und nicht selbst die Videokamera vor der Disco entdecken, die endlich zeigt, mit wem Janine in jener Nacht wegging. Trotzdem: Auch wenn die Serie in der Summe enttäuscht, reißen sie doch die Einzelteile wieder heraus.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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