FREITAG: Die Politik des Sozialabbaus der Bundesregierung erinnert an Margret Thatchers "TINA-Syndrom", einer angeblich alternativlosen Politik. Die Gewerkschaften verharren jedoch bis auf rhetorische Gesten in ihrer partnerschaftlichen Position zur Bundesregierung. Wie ist das zu erklären?
INGRID KURZ-SCHERF: Ich würde das Verhältnis der Gewerkschaften zur Bundesregierung nicht mehr als partnerschaftlich bezeichnen. Es ist widersprüchlich: zwischen nicht besonders heftigen Protesten und nicht besonders heftiger Zustimmung. Dieses "Eiern" der Gewerkschaften hat sicher viele Ursachen. Eine Überlegung ist dabei immer: was kommt, wenn diese Bundesregierung abtritt? Und ein anderes Problem ist - abgesehen von der Verfilzung der Führung der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie - dass sie natürlich auch immer sehen müssen, wie weit ihre Mitglieder mitziehen. Es gibt insgesamt in der Republik eine gewisse Lähmung. Viele sind zwar entsetzt über das, was da sozial- und arbeitsmarktpolitisch passiert, aber auch von diesem TINA-Syndrom infiziert: Wer sich überhaupt Alternativen vorstellen kann, hält sie für unrealistisch und denkt, dass sie in der Praxis an den realen Machtverhältnissen scheitern.
Hätten die Gewerkschaften nicht die Hartz-Proteste zum Anlass nehmen können, sich eindeutiger zu positionieren?
Es ist sehr bedauerlich, dass die Gewerkschaften dieses Aufkommen wenigstens von Anzeichen einer Protestbewegung nicht genutzt haben, um deutlicher Farbe zu bekennen. Sie hätten demonstrieren können, dass sie mit der Grundrichtung dieser Politik nicht einverstanden sind. Möglicherweise haben sie auch gezweifelt, ob die Kerngruppen der Gewerkschaften einem entschiedenerem Aufruf zum Protest wirklich gefolgt wären. Denn es gibt in Gewerkschaftskreisen durchaus eine Unsicherheit darüber, ob diese Politik der Bundesregierung nicht vielleicht doch zum Erfolg führen könnte.
Eine ähnlich zögerliche Haltung scheint nun auch in Bezug auf die Frage der Mindestlöhne zu bestehen..
Das ist auch nicht so einfach. Die Gewerkschaften sind traditionell aus guten Gründen gegen eine staatliche Regulierung der Löhne. Sie sagen, das sei Angelegenheit der Tarifautonomie, ein Bereich der Selbstregulation der modernen Gesellschaft. Nun wird momentan überall die Schutzfunktion der Tarifverträge durchlöchert, und aus dieser Überlegung heraus denken die Gewerkschaften ersatzweise über eine gesetzliche Regelung von Mindestlöhnen nach. Das ist eine Forderung aus der Schwäche heraus. Wenn die Gewerkschaften nicht in der Situation wären, dass sie mit ihrer Tarifpolitik die Löhne nicht mehr stabil halten können, würden sie mit Sicherheit keine Forderung nach gesetzlich garantierten Mindestlöhnen formulieren.
Die Gewerkschaften scheinen immer der Politik hinterherzulaufen. Ist denn für Sie noch eine Strategie erkennbar?
Rosa Luxemburg hat einmal gesagt: "Die positiven Wirkungen von Gewerkschaften beschränken sich auf Zeiten guten Geschäftsganges - in Zeiten der Krise versagen sie regelmäßig." Dieses Versagen hat natürlich auch seine Gründe in der strukturellen Position der Gewerkschaften in kapitalistischen Gesellschaften. Dieses Hinterherrennen, kein eigenständiges politisches Profil entwickeln zu können, hat einfach auch etwas damit zu tun, dass die Gewerkschaften keine politische Partei sind und eine falsche Politik der Parteien auch nur begrenzt kompensieren können. Sie können im Zweifel nur das, was ihnen in diesem System als Gewerkschaften auch zugestanden wird, also nicht die Politik tatsächlich bestimmen.
Einerseits haben die Gewerkschaften, volkswirtschaftlich gesehen, die Haltung, Lohnverzicht vernichte Arbeitsplätze. In konkreten Fällen handeln sie aber Lohnverzicht aus, um Arbeitsplätze zu sichern. Macht sie das nicht unglaubwürdig?
Aber welche reale Möglichkeit haben sie denn? Sie könnten jetzt auch noch diese grundsätzliche Position aufgeben, um damit sozusagen ihr reales Handeln zu heilen, oder aber sie halten die grundsätzliche Position aufrecht und geraten dann eben in Widerspruch zwischen dem, was sie abstrakt vertreten und dem, was sie konkret machen.
Sind die Zeiten des klassischen Arbeitskampfs endgültig vorbei?
Erinnern Sie sich an den Streik um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland im vergangenen Jahr. Da haben Teile der Gewerkschaften gesagt: "Wir wollen Arbeitszeitverkürzung" - und sind mit diesem Arbeitskampf ganz fürchterlich auf die Nase gefallen, unter anderem weil sie ihn schlecht vorbereitet hatten, aber auch, weil er nicht wirklich getragen wurde. Der Streikabbruch war der größte Rückschlag für die IG Metall in der Nachkriegsgeschichte. Davon erholt man sich nicht so schnell. Dass in der gegenwärtigen machtpolitischen Konstellation Gewerkschaften nicht viel auszurichten haben, hängt aber auch damit zusammen, dass massenhaft Menschen die Gewerkschaften verlassen und dann erwarten, dass diese mit Verve in ihrem Interesse Politik machen.
Ist nicht auch längst der nationale Bezugrahmen von Gewerkschaften verloren gegangen?
Sicher, die Gewerkschaften müssten versuchen, auf inter- und supranationaler Ebene handlungsfähiger zu werden. Das ist nur nicht ganz einfach, denn die Arbeitskulturen, die sozialen Traditionen und die Kulturen der industriellen Beziehungen unterscheiden sich doch ganz gewaltig zwischen den einzelnen Ländern: ob sie beispielsweise wie in der Bundesrepublik ein branchenmäßig organisiertes System von Tarifverträgen haben oder ob sie eher immer schon betrieblich agiert haben, ist ein großer Unterschied. Aber diese ganze sogenannte Globalisierungsfalle darf auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gewerkschaften soziale Institutionen, soziale Bewegungen sind, die letztendlich vor Ort verankert sein müssen. Für die Gewerkschaften kommt es mindestens ebenso sehr darauf an, ihre betriebliche lokale Verankerung zu stabilisieren - und zum Teil neu aufzubauen - und international handlungsfähig zu werden. Die finanzielle Basis der Gewerkschaften wird durch Mitgliederschwund geschwächt. Das birgt die Gefahr, dass sie beides nicht richtig machen.
Haben die Gewerkschaften den Anschluss verpasst, sich zu erneuern?
Mal abgesehen von der schwierigen politischen Situation, in der wir uns befinden, sind die Gewerkschaften weder mit ihren Strukturen noch mit ihrer Programmatik sehr gut vorbereitet auf die Probleme, die sich ihnen jetzt stellen. Sie haben den "Traum von der immerwährenden Prosperität", wie Burkart Lutz es genannt hat, viel zu lange geträumt und sich viel zu spät darauf eingestellt, dass die Aufgaben eben nicht immer nur mit Wachstum und Lohnforderungen zu lösen sind. Man braucht eben auch die betriebliche Basis und die überbetriebliche, internationale Koordination. Ich hoffe, dass die Gewerkschaften das noch lernen. Und vielleicht sind auch die Proteste gegen Hartz IV erste Anzeichen dafür, dass die Leute sich mehr und mehr bewusst werden, wie notwendig es ist, sich verstärkt zu organisieren, beispielsweise in Gewerkschaften.
Das Gespräch führte Connie Uschtrin
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