Halbes Hoyerswerda

Wiedervereinigung Die Brikettpresse schweigt, leere Trampoline warten auf Enkel: eine Bustour durch die Oberlausitz
Ausgabe 15/2019

Mehr als 10 Jahre auf einen Trabbi warten? „Auch wenn das für viele sehr komisch scheint: Wir brauchten ja kein Auto“, sagt Kirstin Zinke, die am stillgelegten Bahnhof Bernsdorf steht. „Die Züge und Busse fuhren direkt in den Betrieb.“ Jetzt fährt hier seit Jahren kein Zug mehr entlang, an einer Mauer hängt ein „Zu verkaufen“-Schild. In Bernsdorf, einem der ältesten Industriestandorte der Westlausitz, wurde bis in die frühen 1990er Jahre Glas produziert. Als sich die Produkte nach 1989 auf einen Schlag am freien Markt bewähren sollten, konnte sich der Betrieb bald nicht mehr halten und musste schließen. Für die Maschinistinnen und Maschinisten bedeutete das nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern häufig auch die Entwertung ihrer ganzen Erwerbsbiografie – das Arbeitsamt versah sie mit dem Status „ungelernt“. Nach der Betriebsschließung wurde der Bahnhof angeblich nicht mehr benötigt – heute keimt Hoffnung, Bernsdorf könne doch wieder an das Schienennetz angeschlossen werden; denn das circa 50 Kilometer entfernte Dresden wächst und mit ihm der Bedarf an Wohnungen – vielleicht reicht der Speckgürtel der sächsischen Landeshauptstadt eines Tages bis hierher.

Es ist Tag drei der Tagung „Kolonie Ost?“, und deren Organisatoren haben zu einer Bustour durch die sächsische Oberlausitz geladen, moderiert von Kirstin Zinke, Leiterin des Sächsischen Industriemuseums in der Energiefabrik Knappenrode, und Robert Lorenz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slawistik der TU Dresden. Sie wollen die Folgen der Deindustrialisierung im Osten sichtbar machen, hier, wo Kohle, Sand, Granit, Kies und Ton abgebaut wurden und wo heute wunderschöne Landschaften und Perspektivlosigkeit für viele junge Menschen nah beieinanderliegen.

Der Bus erreicht Hoyerswerda, wo der Blick zuerst auf eine leere Litfaßsäule fällt, dann auf das Plakat an der Hauswand dahinter: „Ü-30-Party: Tanzen, Flirten, Feiern“. In Hoyerswerda, relativ zur Bevölkerungszahl einst die kinderreichste Stadt der DDR, hat sich die Einwohnerzahl auf 33.000 halbiert, Tendenz fallend. Es ist ein sonniger Freitagnachmittag, auf den Straßen sind kaum Menschen zu sehen, vor allem keine unter 30-Jährigen.

„Gefühlt in jedem dritten Vorgarten“, sagt Robert Lorenz einmal, „sieht man seit einigen Jahren Trampoline. Die stehen dort vom Frühjahr bis in den Herbst, in der Hoffnung, dass die Enkel zu Besuch kommen. Aber das passiert selten, und wenn man vielleicht ein-, zweimal AfD gewählt hat, erst recht nicht – dann haben die Kinder keine Lust mehr auf die Diskussionen.“ Dass sich die Gegenwart nicht vollends düster darstellt, vergessen Lorenz und Zinke nicht zu erwähnen – hier und da kehrten inzwischen ja tatsächlich einige junge Menschen aus dem Westen zurück, insofern sie günstigen Wohnraum, Kita- und Arbeitsplätze finden.

Gundermanns Heimat

In Hoyerswerda war die ganze Struktur früher auf einen einzigen Zweck ausgerichtet: die Unterbringung der Arbeiter aus den Kohleabbaugebieten der Umgebung. Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter fanden hier ein Zuhause, der Baggerfahrer und Liedermacher Gerhard Gundermann ist der bekannteste. Von der Vergangenheit zeugt ein gigantisches Wandmosaik an der Lausitzhalle, die als Betriebskulturhaus des Gaskombinats Schwarze Pumpe erbaut wurde und bis 1993 Haus der Berg- und Energiearbeiter hieß. Fritz Eisels Mosaik reicht über die ganze Hauswand an der Längsseite der Halle, zeigt die Arbeiter im Stollen und den Mond über den Fördergeräten, auf einer Plattform über der Mine steht ein junges Paar und blickt in die Ferne.

Die Erinnerung wachhalten will Kirstin Zinke auch an ihrer Arbeitsstätte in Knappenrode, der letzten Station der Tour – aus der Brikettfabrik soll ein Museum werden. Ein ehemaliger Mitarbeiter führt stolz die Maschine vor, mit der Kohlebriketts hergestellt wurden, „85 pro Minute haben wir für den Export gepresst“, sagt er. Dann führt Zinke durch die Umkleidekabinen. Unter der Decke hängt die Arbeitskleidung – an ihrem letzten Tag 1993 hat sie die Belegschaft mit einem Seilzug hinaufgezogen. Den Tour-Moderatoren gilt dies als Akt des Widerstandes und als ein Zeichen für die Unabgeschlossenheit der Vereinigung von Ost und West.

Ole Nymoen hospitiert derzeit beim Freitag und hat wie Marlen Hobrack an der Tagung „Kolonie Ost?“ teilgenommen

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