Selbst der Trinker Falstaff hat mehr Würde als der Mann in Washington
Abbildung: United Archives/Imago
So weit daneben lag sie nicht, die Londoner Buchhändlerin, die dem Rezensenten auf dessen Frage nach dem neuen Buch von Stephen Greenblatt stattdessen On Tyranny von Timothy Snyder (deutsch: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand, C. H. Beck 2017) aus dem Regal holte. Denn Greenblatts Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundertist mitnichten eine Monografie über Shakespeare und das Politische, sondern eine politische Streitschrift über unsere Zeit – nur dass der Autor seine Parallelen in Gegenwart und Geschichtsschau des elisabethanischen England sucht, nicht um 1930. An Shakespeares Herrscherfiguren und der in ihnen geronnenen Reflexion über die eigene Zeit will der Literaturhistoriker Erkenntnisse über jenen Macht
iker Erkenntnisse über jenen Machthaber gewinnen, der nie genannt wird, den wir aber nicht zuletzt daran erkennen, „dass die, die er begrabscht, ihn hassen“.Die Parodie eines PamphletsDiese Beschreibung eines Wüstlings auf dem Thron gilt vordergründig Richard III., Antiheld eines frühen Dramas, das von einem historischen Wendepunkt handelt – dem Übergang Englands aus dem Bürgerkrieg in den Frieden, aus dem Mittelalter in die Neuzeit – sowie einen Wendepunkt in Shakespeares Werk markiert. Denn hier tritt, so Friedrich Gundolf, erstmals „der geistig überlegene Mensch“ als tragischer Held auf. Ausgerechnet dieser Richard von York muss die Hauptlast der historischen Analogien Greenblatts schultern, um den Preis seiner Tiefe wie auch der Komplexität von Drama und historischem Stoff.In seinem Griff nach dem Thron nutzt Richard „die Gelegenheit, ein Bündnis mit der verarmten, abgehängten und ungebildeten Unterschicht zu schließen“. Solche Absage an jegliche Subtilität hat Methode, schreibt Greenblatt doch weiter: „Yorks Genie, falls dies der richtige Begriff für etwas so gemeines ist, liegt darin zu begreifen, wie er den Unmut, der unter den Ärmsten der Armen brodelt, für sich nutzen kann.“ Zur Sache steuert der relativierende Einschub nichts bei, er trägt lediglich den Ton der moralischen Selbstvergewisserung. Doch damit nicht genug: Die Partei des Thronprätendenten schreckt nicht davor zurück, sich mit dem Erbfeind zu verbünden; der Tyrann in spe selbst „teilt die Welt in Sieger und Verlierer ein“ und „liebt es, andere zu demütigen“. Das mag im Einzelnen alles sein, doch fügen sich die Züge zu unterschiedlicheren Bildern, als es die interessegeleitete Lektüre wahrhaben will, die schon im Voraus weiß, welche Lehren sie ziehen wird.Es steht nämlich zu fragen, wie viel Erkenntnis von einem Buch zu erwarten ist, das ganz auf Wiedererkennungseffekte gebaut ist. Legitimieren kann sich ein solches Verfahren nur mit Blick auf Shakespeare selbst, in der Suggestion, schon dieser habe mit Winken gearbeitet, die das Theaterpublikum wohl verstanden hätte. Doch bei Greenblatt sind die Anspielungen so deutlich und ist die mit ihnen verbundene Gefahr so gering, dass die Verschlüsselung dem Leser allenfalls ein zufriedenes Schmunzeln abnötigt. Was unbescheiden als Pamphlet des Widerstands daherkommt, wirkt eher als Parodie eines solchen. Vor der bemühten Konstruktion, der zufolge der römische Volkstribun Coriolan sich die Stimme einer „alternative right-hand file“ angeeignet habe, kapituliert schließlich auch der Übersetzer und spricht schlicht und anachronistisch von „Rechtsextremen“.Nicht, dass solche Parallelen nicht verlockend wären: Donald Trump (um ihn nicht ungenannt zu lassen) lässt es sich feixend gefallen, dass seine Tochter Ivanka „a piece of ass“ genannt wird; Richard freit gar seine eigene Nichte. Richard konkurriert mit der bestens vernetzten Woodville-Dynastie um den Thron – wer dächte da nicht an die Clintons? Und wo Greenblatt Macbeth mit dem Vorsatz zitiert: „Von Stund ab werde / Der jedesmalige Erstling meines Herzens / Der Erstling meiner Hand“, stellt man sich diese Hand gern an der Tastatur vor, ihre Tweets in die Welt polternd.Doch ungeachtet ihrer Tragfähigkeit im Einzelnen ist die Analogie im Kern fragwürdig. Um der Faszination des amerikanischen Präsidenten auf die Spur zu kommen, wäre Falstaff kein schlechtes Exempel gewesen. In ihm erkennen wir die Figur des vollendeten Zynikers, „who goes low when they go high“, der alle Werte bürgerlichen Anstands verachtet und den königlichen nur in ihrer Umwertung Tribut zollt. Er, der nur Trieb und Befriedigung kennt, der sich den Kneipenstuhl zum Thron nimmt, ist Shakespeares karnevalesker Gegenkönig und die Folie zu dessen Inbegriff wahren Königtums, Heinrich V. Auch wenn ihm schließlich in seiner Verleugnung ein Abglanz tragischer Würde zuteilwird, hätte ein Falstaff in der Welt, wie Shakespeare sie sah, nie König werden können. Dem mit der Analogie Gemeinten geht diese Würde vollends ab. Seine „geistige Überlegenheit“ wäre allenfalls das Genie des Toren. Richard aber beweist in der letzten Ansprache an die Seinen auf dem Feld von Bosworth, dass er von königlichem Zeug ist, der Tragödie würdig.Erst aus der für Shakespeare noch selbstverständlichen Heiligung des Königtums folgt der Abscheu, mit dem die Usurpation geschildert wird. Wirklich grässlich wird die Tyrannei eines Macbeth oder Richard eben durch diesen sich fortzeugenden Rechtsbruch.Damals war es komplizierterGreenblatt, der Mitbegründer des „New Historicism“, der die Beziehungen, die literarische Texte mit ihrer historischen Umgebung eingehen, in den Blick nimmt, betreibt hier einen halbierten Historismus, indem er zwar nicht die unmittelbar politischen, wohl aber die geistigen Voraussetzungen der Zeit übergeht. Neben der schon im tiefen Mittelalter einsetzenden englischen Tradition des Nachdenkens über die Tyrannei gehört dazu der hier so wichtige Unterschied im Handlungskontext zwischen höfischer und demokratischer Gesellschaft. Doch stellt sich die Lage bei Shakespeare noch komplizierter dar: An der Absetzung Richards II. durch Bolingbroke, den späteren Heinrich IV., zeigt sich etwa, dass weder Legitimität Tyrannei verhindern kann noch Usurpation sich nicht legitimieren lässt.Greenblatts optimistischer, dem Coriolanus entnommener Ausblick – „Was ist die Stadt, wenn nicht das Volk?“ – mag im republikanischen Rom ein hehrer Anspruch gewesen sein, war aber in Shakespeares Zeit nicht einmal eine regulative Norm.Von Shakespeares theatralischer Praxis – die Zuschauer werden das Geflecht, das ihnen vorgestellt wird, schon zu entwirren wissen – schließt Greenblatt auf einen Demokratismus, der an die Weisheit des Volkes glaubt. Doch für das Volk in Gestalt des Publikums muss er zugeben: „Wieder und wieder sind wir von der Ungeheuerlichkeit des Schurken bezaubert.“ Die Gründe für diese Verzauberung – die „Gleichgültigkeit gegenüber den üblichen Normen menschlichen Anstands“ – sind ganz jene, welche uns auch Falstaff lieben lassen. Es ist die Übertragung dieser Triebdynamik ins Politische, vor welcher der Liberalismus ratlos steht.Placeholder infobox-1
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