Beim Titel dieses Romans fällt einem sofort Unterleuten ein, Juli Zehs Bestseller von 2016. Die Autorin und ehrenamtliche Verfassungsrichterin, die seit 2007 selbst im Havelland wohnt, ließ in einem brandenburgischen Dorf Alteingesessene und Zugereiste aufeinanderprallen. Im Konflikt um den Bau eines Windparks stoßen alte Verbitterung und neue Interessen umso heftiger zusammen, weil einer vom anderen irrige Vorstellungen hat. In Über Menschen gibt es nur Dora, die uns aus der Ich-Perspektive auf ihre Seite ziehen will. Wohl überlegte ich, ob 416 Seiten dafür nicht zu ausufernd sind. Doch bald wurde ich von der Geschichte gepackt, von Problemen, die darin angesprochen sind.
„Wie viel Abstand braucht eine Linksliberale zum nächsten Neo-Nazi?“ Diese Frage des Romans ist nur die Spitze des Eisbergs, genauer gesagt, nur ein Teil der Kluft, die unser Land durchzieht. Als Werbetexterin in Berlin war Dora mit der Marke „Gutmensch“ einer Jeansfirma befasst, bis diese wegen Corona den Auftrag zurückzog. Mit 36 verliert sie ihre Anstellung, kommt in Schwierigkeiten, die sie vorher nicht kannte. Und das, nachdem sie ein sanierungsbedürftiges Haus auf dem Land gekauft hat. Was sie denn „bei den ganzen Rechtsradikalen“ wolle, hatte der Vater gemeint, der nach dem Tod der Mutter mit einer neuen Partnerin zusammenlebt und als gefragter Gehirnchirurg im Buch noch eine Rolle spielt.
Im Lockdown aufs Land
Aufgewachsen in gutbürgerlichem Haus in einem Münsteraner Vorort, Verlust der Mutter, vom Vater allein gelassen, jedoch mit finanzieller Unterstützung im Rücken, ist Dora voller Selbstbewusstsein in die kreative Mittelschicht aufgestiegen. Und jetzt zieht sie, mitten im Lockdown des Frühjahrs, von Berlin nach Bracken. Wie sich damit nach und nach eine Umwertung bisheriger Selbstverständlichkeiten verbindet, ist Thema dieses Romans – umso interessanter gerät das, weil die Pandemie nicht nur momentan vieles verändert, sondern auch künftige Auswirkungen haben wird auf die Art, wie wir leben.
Man kann Robert vor sich sehen, aus dessen Wohnung Dora mit zwei Koffern und drei Umzugskartons floh (er half ihr nicht beim Tragen). Ein selbstgerechter Typ, der sich vom Klimaschutzaktivisten zum „Corona-Experten“ radikalisiert hat, als „hätte er heimlich schon jahrelang auf das Virus gewartet“ – mit starken Worten beschreibt Juli Zeh den Typus eines Mannes, der nur noch Gefolgschaft will. Als Mitarbeiter eines Online-Magazins ist Robert nicht gerade gut gestellt und kompensiert das, indem er sich als besserer Mensch geriert. Es ist sein innerer Schutz, auf andere herabzublicken. „Man ist damit beschäftigt, interessant und wichtig zu sein. Ein Wettlauf von Konformisten, die sich als etwas Besonderes inszenieren“.
Kluge Zeitdiagnosen sind die Stärke des Romans, vielleicht auch sein Ausgangspunkt. Er ist deshalb so umfänglich geworden, weil Dora dafür konkrete Erfahrungen machen muss (um auszusprechen, was die Autorin denkt). Als ein Glatzkopf bei ihr über den Zaun blickt und sich als der „Dorf-Nazi“ vorstellt, erschrecken wir mit ihr. Wird es zu Gewalt kommen? Wird sie das Feld räumen müssen? Dabei weiß Dora noch nicht einmal, dass dieser „Gote“ wegen Körperverletzung vorbestraft ist. Wie sich ihr Verhältnis entwickeln wird, mit dieser Frage erzeugt Juli Zeh nun die Spannung. In Bracken kam die AfD auf 27 Prozent. Sogar zwei schwule Männer könnten für Rechts gestimmt haben. Zeh ist keine Verharmlosung vorzuwerfen. Aber das Betroffensein ist ihr nicht genug, sie sucht nach Gründen und findet in diesem Dorf „die geheime Unterseite der Nation“. Ferndiagnose: strukturschwache Region, „die da oben behandeln uns doch wie Idioten“, sagt man vor Ort. Früher mal war in Doras Haus die Dorfkita. Jetzt trifft sie eine alleinerziehende Mutter, die nachts arbeiten geht, um sich tagsüber um ihre Kinder zu kümmern. Wer wohl in Prenzlauer Berg die Kinder nachts allein lassen würde, überlegt sie, und wie sich überhaupt die Lebensweisen unterscheiden. Dabei gibt es wohl auch in Berlin solche Frauen, unbemerkt von jenen, die sich einen anderen Lifestyle leisten können.
„Ich bin kein Nazi. Ich bin nur ein bisschen altmodisch“, sagt Gote irgendwann, nachdem er Doras Haus gestrichen, auch sonst geholfen hat, während seine kleine Tochter Franzi mit Doras Hündin Freundschaft schließt. Zu dritt werden sie zum „Siedlungsplatz Schütte“ fahren, wo er mit seinem Vater wohnte, bis es hieß, „das gehört jemand anderem“. Dreizehn war er, als sie weg mussten. Dass er dann in Rostock-Lichtenhagen dabei war, versetzt Dora in Zorn. Was mit „Rückgabe vor Entschädigung“ im Einigungsvertrag losgetreten worden ist, hier ist es lediglich angedeutet. Als Schriftstellerin hätte Juli Zeh das Thema zuspitzen müssen, als Brandenburger Verfassungsrichterin sieht sie davon ab.
Wer (einfach nur) Unterhaltsames sucht, findet die gut nacherlebbare Geschichte einer Ankunft und einer Heilung. Wie Dora den Spaten in die Erde stößt, wird sie zu sich selbst gebracht. „Wie wenig Polarisierung es in Wirklichkeit gibt“, denkt Dora. Aber das will ihr wohl nur während eines Dorffestes so scheinen. Und wollte Juli Zeh nicht über derlei Versöhnlichkeit hinaus?
„Dass alle Angst haben und dabei meinen, dass nur die eigene Angst die richtige sei“, beschreibt stattdessen genau die gegenwärtige Situation. Dass sich die einen „vor der Überfremdung, die anderen vor der Klimakatastrophe“ ängstigen, „die einen vor Pandemien, die anderen vor der Gesundheitsdiktatur“, lässt Dora befürchten, „dass die Demokratie am Kampf der Ängste zerbricht. Und genau wie alle anderen glaubt sie, dass alle anderen verrückt geworden sind.“ Da wird aus Doras Sicht eine sozialökonomische Krise (im Zusammenstoß unterschiedlicher materieller Interessen) zu einem mentalen Problem kleingeredet. Die Ansicht von Doras Vater, dass die Menschen lediglich „ihre persönliche Unzufriedenheit mit einem politischen Problem verwechseln“, treibt das auf die Spitze.
Juli Zeh ist mit Über Menschen ein Gesellschaftsbild gelungen, das auch nach der Lektüre Wirkung entfaltet. Ihr Roman ist geeignet, Diskussionen anzustoßen, wie man es sich von Literatur wünscht – darüber, wie gesellschaftliche Entwicklung eben nicht nur von den Städten aus gedacht werden kann, denn: Wie Dora in Bracken „die geheime Unterseite der Nation“ entdeckt, stimmt sehr nachdenklich.
Info
Über Menschen Juli Zeh Luchterhand 2021, 416 S., 22 €
Kommentare 11
»Beim Titel dieses Romans fällt einem sofort Unterleuten ein, Juli Zehs Bestseller von 2016.«
In der Tat. Romaninhalt und Besprechung deuten auf einen neuen Lesemagnet aus Zeh’scher Produktion hin. Durchgängig angenehm an ihren Romanen finde ich den Gesamtblick auf das Geschilderte – also die Priorität der jeweiligen Geschichte ohne störende oder gar Lesen-verunmöglichende »Function Follows Form«-Attitüden.
Kurzum: Ich bin dabei. Wobei der Rezensionstext hier lediglich die letzte Anregung gegeben hat.
Allzu viele Rezensionen findet man zu "Über Menschen" noch nicht im Internet. Umso erfreulicher, dass im Freitag jetzt eine erscheint.
Mit der Protaginistin Dora und ihrem Neonazi Nachbarn Gote (Gottfried) gelingt Julie Zeh eine interessante Charakterisierung zweier sehr komplett verschiedener Persönlichkeiten, die eine (Dora) als Städterin durch den Umgebungswechsel auf das Land in Veränderung begriffen und auf Suche nach neuer Orientierung, die andere als Gote mit unveränderlichen, stabilen Haltungen, von denen einige Dora anziehen andere umso mehr abstossen. Die gewohnte ständige Selbstoptimierung Dora´s trifft auf die stoische, felsenhafte Gelassenheit Gote´s. So wie Gote zunächst seine Nachbarin gegen ihren Willen mit Möbeln, Mitfahrgelegenheit, Renovierungshilfe praktisch und wortlos unterstützt, unterstützt sie ihn später ebenso ruhig und wortlos, als er es braucht. Beide Nachbarn leben noch mit einem Lebewesen zusammen, sie mit einem Hund und er mit seiner den Sommer bei ihm verbringenden Tochter, die sich beide anfreunden.
Wer das Buch liest, weil er meint, etwas mehr über Brandenburger Lebenswelten zu erfahren, täuscht sich in meinen Augen. Es handelt sich bei den Charakteren um Fiktion, manche meinen Klischee´s, sowohl bei "Unterleuten" wie bei "Über Menschen". Zum Charakterbild von Gote, dem Dorfnazi gehört es beispielsweise, dass er "arbeitsloser Tischler" ist. In Wirklichkeit werden aber Handwerker in Brandenburg, auch Tischler, überall händeringend gesucht. Bei mir im Brandenburger 57-Seelen-Dorf gibt es eine Tischlerei z.B.
Ein weiterer Neuaufguss von Rückkehr nach Reims.
Irgendwann begreifen auch die begriffsstutzigsten "Linksliberalen", daß sie von den Herrschenden manipuliert werden, wenn sie normale Menschen, die seit Jahren respektlos behandelt und missachtet wurden, als Nazis verunglimpfen.
Diese Nazis tragen mehr zum BIP bei als so mancher Salonlinke.
Ja, jede Körperverletzung steigert das BIP. Von der Bestattungsbranche ganz zu schweigen. Außerdem haben Rechte, die ich persönlich kenne einen sehr ausschweifenden Lebensstil. Super für's BIP, aber wir leisten uns lieber nichts mit ihnen zu tun haben zu müssen.
Ach ja, meine Frau hat vor Jahren tatsächlich mal eines ihrer Opfer ärztlich versorgt. Danke für nichts.
"Außerdem haben Rechte, die ich persönlich kenne einen sehr ausschweifenden Lebensstil."
Sagen sie bloss? Was glauben sie, wieviel Menschen mit Nazihintergrund eine Finca auf Mallorca besitzen und ein Landhaus auf Sylt!
Wie wäre es, wenn "Linksliberale" mal in deren Sphäre eindringen und Bücher über diese Mitbürger und deren auschweifendern Lebenstil schrieben? Wenn sie mal ergründen würden auf welchem Mist der Reichtum dieser Rechten bzw. ihrer Vorfahren gründet?
Aber dazu fehlt ihnen ja die Traute oder sie sind schlicht zu blöd.
"Sagen sie bloss? Was glauben sie, wieviel Menschen mit Nazihintergrund eine Finca auf Mallorca besitzen und ein Landhaus auf Sylt!"
Wäre schön wenn sie sich dort etwas Hedonismus und Entspannung gönnen würden. Tun sie aber nicht.
"Wäre schön wenn sie sich dort etwas Hedonismus und Entspannung gönnen würden"
Na, was denn nun? Sie wollen mit Rechten nichts zu tun haben, aber wünschen ihnen Entspannung auf Mallorca?
Die wirklich gefährlichen Rechten wohnen nun mal eher auf Sylt als in Brandenburg.
Aber Gote ist ja nicht arbeitslos, weil es keine Arbeit für ihn gäbe, sondern weil er es nicht auf die Reihe kriegt, einer geregelten Arbeit nachzugeben (politisch unkorrekt ausgedrückt). Also ich fand den sehr eindrucksvoll dargestellt.
"nachzugehen" natürlich
Ob nun manche Charaktereigenschaften von Gote, seine Krankheit oder das Fehlen von geeigneten Arbeitsplätzen die Ursache seines Lebens ohne geregelte Beschäftigung darstellen, wird nach meiner Erinnerung nicht näher geschildert. Auf jeden Fall meidet er das Arbeitsamt, weshalb er ohne Krankenversicherung lebt. Er bleibt wegen seiner Wortkargheit für Dora und den Leser zum Teil eine Black Box, die sich erst zum Romanende hin mit seinem biografischen Rückblick und der Schilderung der Naziattacke etwas aufhellt. Aber aufgrund der Berufsbezeichnung, arbeitsloser Tischler, habe ich mir schon vorgestellt, dass er mal eine Ausbildung gemacht und praktische Erfahrungen erworben hat.
Julie Zeh´s Sichtweisen auf die Stadt und das Land zeigen sich in dem Roman deutlich, die ich persönlich so nicht nachempfinden kann.
juli zeh reiht, sowohl sprachlich als auch inhaltlich, klischee an klischee. manche passagen sind unfreiwillig komisch. die hauptperson, die junge frau, eine wandelnde schablone. teilweise erschütternd lieblos und ohne athmosphäre geschrieben. no, i am out