Rührend anzuhören war, wie vor zwei Wochen eine Redakteursrunde im ARD-Presseclub sich den Kopf über Schröders "Vermittlungsproblem" mit seiner Agenda 2010 zerbrach. Davon ließen sie sich auch von anschließend durchgestellten Zuschaueranrufen nicht abbringen, die ausnahmslos alle darauf aufmerksam zu machen versuchten, dass die Inhalte das Problem seien.
Ebenso fragte Matthias Geis jüngst in der Zeit: "Wie kommt es, dass das Notwendige und Richtige, das getan werden muss, so wenig Anerkennung findet und die Partei immer tiefer in die Krise treibt? Soll diese Spirale sich so lange nach unten drehen, bis die Macht dahin ist? Sind die zurückliegenden und die bevorstehenden Wahlniederlagen der Preis für eine richtige, aber unpopuläre Politik? Da
ber unpopuläre Politik? Das sind deprimierende Fragen." Jedoch nur für jene, die das Wesen von Demokratie bis heute nicht verstanden haben. Solche Fragen werden in dem Kosmos gewälzt, der die politische Klasse mit ihren Leitmedien vereint. In einem ganz anderen Kosmos denken viele ehemalige SPD-Wähler und -Mitglieder, die sollen doch ihren Staat alleine machen. Und sofern sie Geld haben, geben sie es weder "für den Arbeitsplatz ihres Nachbarn" noch für Schröders Konjunkturaufschwung aus, sondern behalten es bei sich und ihren wenigen Kindern.Gerhard Schröder wird in die Geschichte eingehen. Als erster Kanzler der Bundesrepublik hat er das Land in Kriege geführt, was in dominierenden Kreisen der Außenpolitik als eigentlicher Beginn der staatlichen Souveränität angesehen wird. Erst mit diesem Schritt sollen wir beziehungsweise unser Staat "normal" geworden sein. Doch diesem "Verdienst" hat der bisherige SPD-Vorsitzende Schröder einen weiteren hinzugefügt: mit diesem Vorsitzenden verlor die Republik mit der SPD eine ihrer beiden Volksparteien.Der Hauptstadtumzug von Bonn nach Berlin rächt sich an der SPD. Die Abgeordneten verließen das Kernland der Nachkriegs-Sozialdemokratie Nordrhein-Westfalen. Statt allabendlicher Heimreisen aus dem Raumschiff Bonn gibt es nur noch wöchentliche Heimreisen aus dem Berliner Regierungsraumschiff. Ein 17-Millionen-Bundesland wurde gegen ein Drei-Millionen-Bundesland eingetauscht. Da gingen viele Alltagsnetzwerke verloren, die Hoffnung vom Realitätsgewinn der Bundespolitik durch den Berlin-Umzug verkehrt sich in ihr Gegenteil.Oder wie soll man es sonst erklären, dass die SPD-Führung sehenden Auges ihr Haus entkernt? Nicht Fassaden, nicht Aus- und Eingangsbereiche wurden renoviert, sondern die Statik wurde von innen heraus entfernt. So bedarf es keiner Angriffe mehr. Die Partei kann nicht mehr gespalten oder gesprengt werden, sie fällt in sich zusammen.Die Agenda 2010 ist in Bezug auf die SPD keine Reform. Sie ist kein Bündnisangebot an Außenstehende. Sie ist ein Abbruchunternehmen. Nirgendwo tritt das deutlicher zutage als im ehemaligen SPD-Stammland NRW. Johannes Rau hat hier von 1980 bis 1995 dreimal hintereinander eine absolute Mehrheit erobert. In seiner Regierungszeit gab es auch soziale Einschnitte und spektakuläre Werksschließungen mit Massenentlassungen, insbesondere in der Stahlindustrie. Doch seinerzeit gab es noch einen sozialpartnerschaftlichen Konsens, die Entlassenen fielen im Vergleich zu heute weich, die Sozialdemokraten gerierten sich als ihre politischen Interessenvertreter.Dieses Bild stimmte zwar nie, sondern war zu großen Teilen eine publizistische Inszenierung. Schröder aber hat dieses Bild mit seiner Agenda in ihr komplettes Gegenteil verkehrt. Bereits 1999, bei den ersten Renteneinschnitten, gingen die SPD-Wähler bei den NRW-Kommunalwahlen in Massen von der Fahne. Rote Rathäuser gingen reihenweise verloren. In den SPD-Hochburgen des Ruhrgebietes sank die Wahlbeteiligung unter 35 Prozent. Das heißt: die Enttäuschten wechselten nicht zu anderen Parteien. Sie blieben zuhause. So wird es auch in diesem Jahr sein. Zum ersten Mal in der Geschichte hat die SPD im Westen weniger Mitglieder als die CDU - und letztere hat keineswegs welche gewonnen. Es fliehen keine Ränder der Sozialdemokratie, es flieht der Kern und macht die SPD von innen hohl. Sie bringt noch nicht einmal mehr die Kraft zum Streit auf. Sie entschläft fast sanft, unter verbreiteter gesellschaftlicher Gleichgültigkeit. Das ist kein umfragenkonjunktureller, sondern ein historischer Vorgang.Das Klügste, was die CDU/CSU in dieser Lage tun kann, ist: nichts. Je weniger sie ihre Schröder übertrumpfenden Alternativen ("Kopfpauschale" plus Merzens Steuerreform) konkretisiert und durchrechnet, umso weniger schreckt sie ihre Anhängerschaft ab. Die wird den Schaden erst unter der nächsten CDU-Bundesregierung registrieren und so reagieren, wie die SPD-Anhänger jetzt. Dann wird es spannend. Heute weiß niemand, was dann folgt.