Menschenrechte mit Füßen getreten Der Europaabgeordnete André Brie über einen afghanischen Präsidenten, der von seiner amerikanischen Schutzmacht auch mit Hilfe der Warlords regiert wird
Als einziges deutsches Mitglied einer Delegation des Europa-Parlaments hat André Brie in den vergangenen Wochen Afghanistan bereist. Er fand dabei nicht nur Gelegenheit, in Kabul mit Präsident Hamid Karzai und anderen Regierungsmitgliedern zu sprechen, sondern auch das US-Hauptquartier in Bagram sowie verschiedene Regionen des Landes zu besuchen. Eine Station war die nordafghanische Stadt Mazar-I-Sharif.
FREITAG: Wer hat zur Zeit die Macht in Afghanistan? ANDRE BRIE: Eindeutig die Amerikaner, während die Zentralregierung nach meinem Eindruck völlig zerrissen ist. Am stärksten sind dort die Gruppe um Verteidigungsminister Mohammed Fahim sowie die Tadschiken und Usbeken, besonders General Dostum. Außerhalb Kabuls haben die Warlords und einzelne Gouverneure das S
nd einzelne Gouverneure das Sagen. Die NATO will in Afghanistan mehr Präsenz zeigen, wie man hört. Wenn man sich vor Augen hält, was Sie gerade beschrieben haben - in welche Richtung könnte das gehen,? Die NATO will das Kommando von ISAF (*) übernehmen und damit die Diskontinuität in der Führung überwinden, die nach den Türken, Deutschen und Niederländern demnächst die Kanadier ausüben sollen. Vor allem aber wird der Aktionsradius der in Afghanistan stationierten Streitkräfte erweitert, zum Beispiel durch die so genannten Provincial Reconstruction Teams, die PRT, wie die der Briten im Raum von Mazar-I-Sharif oder der Amerikaner in anderen Regionen. Ich sehe das alles mit großer Skepsis, weil es eigentlich notwendig wäre, ein Gewaltmonopol des afghanischen Staates - eine nationale Polizei und Armee aufzubauen -, aber das gerät völlig in den Hintergrund.Wie stark ist der islamistische Widerstand? Der ist militärisch marginal, aber in terroristischer Hinsicht handlungsfähig. Militärisch wirklich gefährlich sind die Warlords mit ihren lokalen Armeen. Eine ganz große Rolle spielt der pakistanische Geheimdienst.Inwiefern? Er nutzt nach wie vor die vielen Camps mit afghanischen Flüchtlingen in Pakistan, um beispielsweise im Kaschmir zu operieren. Diese Camps kommen auch in Betracht als Rekrutierungsbasen für terroristische Aktionen in Afghanistan.Richtet sich das gegen die Autorität der Regierung von Präsident Karzai? Ja, natürlich. Aber betroffen sind vor allem die Menschen in den Grenzregionen, dort gibt es ständig Tote - während man in den Städten vor einer relativen Sicherheit sprechen kann. Es sollen andererseits inzwischen 80 Prozent der Taleban, das haben uns Stammesälteste in Kandahar gesagt, bereit sein, die Waffen niederzulegen, wenn sie in das afghanische Leben re-integriert werden.Wie reagiert die Zentralregierung darauf? Die ist dazu weder bereit, noch in der Lage. Sie will jetzt - bezogen auf die eigenen Soldaten - das Programm Disarmament, Demobilisation, Reintegration beginnen, aber schon das funktioniert nicht, weil man demobilisierten Soldaten in diesem zerstörten Land keine soziale Perspektive bieten kann. Außerdem werden die Warlords durch die Amerikaner geschützt - selbst gegen die von Karzai eingesetzten Gouverneure. Und das, obwohl der Präsident, der - das muss man wirklich sagen - eine Marionette der Amerikaner ist, dadurch einen Bedeutungsverlust innerhalb Afghanistans und der vorhandenen Machtsstruktur erleidet. Man sieht das ganz deutlich in seinem Präsidentenpalast - er wird von Amerikanern bewacht und ist völlig von ihnen abhängig.Das klingt so, als würde Karzai durch die Amerikaner demontiert und hofiert zugleich. Sie wissen natürlich, wie schwach er als Präsident ist, so dass es inzwischen auch eine Orientierung auf die alte Königsfamilie gibt. Das Entscheidende ist jedoch, dass die Amerikaner ihre Option Karzai konterkarieren, indem sie sich die Option Warlords offen halten. Das geht bis zu der Perversität, in Kauf zu nehmen, dass genau diese lokalen Regenten die Opiumproduktion in Afghanistan seit Ende 2001 extrem steigern konnten.Wir waren auch in Bagram, im US-Hauptquartier, und haben gesehen, wie die Amerikaner knallhart ihre eigene Strategie durchziehen. Dort wurden uns Charts gezeigt, unter anderem einige, auf denen die Ziele der USA in Afghanistan formuliert waren. Der letzte Satz dort lautete: Installierung eines afghanischen Regimes, das die Amerikaner zurückholen würde, käme es zu erneuter Instabilität. Das völlig unverhohlen. Da können die ISAF-Verbände und die erwähnten Provincial Reconstruction Teams zwischen alle Mühlsteine geraten und zerrieben werden, ganz zu schweigen von der Zentralregierung.Sie waren auch im Norden, in Mazar-I-Sharif, wo Ende 2001 ein Massaker an Tausenden von Taleban stattgefunden hat. Mit wem haben Sie dort sprechen können? Unter anderem mit General Dostum, der mir immerhin bestätigt hat, dass damals 170 Kriegsgefangene in den Containern erstickt sind. Alle anderen Toten - so behauptet er - seien auf die Kämpfe zurückzuführen. Ich habe Dostum gefragt, ob ich im September zu weiteren Recherchen zurückkehren könne - er hat mir das zugesagt. Ich habe ihn auch angesprochen auf die Gefängnisse, in denen noch immer Tausende von Kriegsgefangenen interniert sind - ohne jedes Gerichtsverfahren, ohne jede Perspektive. Dostum hat die Verantwortung dafür auf die UNO und die Zentralregierung geschoben, die er gebeten habe, diese Gefangenen zu übernehmen.Nicht die Amerikaner? Die haben in Bagram ein eigenes Gefängnis, direkt am Sitz ihres Hauptquartiers, wo nach wie vor Hunderte unter offenbar unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden. Eine Korrespondentin der New York Times sagte mir, dort würden die Menschenrechte mit Füßen getreten, es habe bei Folterungen auch Tote gegeben.Wer ist dafür verantwortlich? Ausschließlich die USA.Wie steht es um die internationale Untersuchung des Massakers von Mazar-I-Sharif? Da gibt es insofern einen Fortschritt, als Lakhdar Brahimi, der Stellvertreter des UN-Generalsekretärs für Afghanistan, jetzt vier Staaten um Unterstützung ersucht hat - die USA, Großbritannien, die Niederlande und Deutschland sind von ihm um finanzielle Hilfe gebeten worden, aber auch darum, die Sicherheit bei möglichen Recherchen am Ort des Geschehens zu gewährleisten. Brahimi hat erzählt, er habe mit Zeugen gesprochen, die den Massenmord von 2001 bestätigt hätten, denen man aber bisher keinen Zeugenschutz geben könne.Was sagt General Dostum als Betroffener dazu? Er hat auf Nachfrage erklärt, er sei dazu bereit, Zeugen zu schützen, aber einen solchen Gangster habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.Gibt es Reaktionen der angesprochenen Staaten? Noch keine. Aber ich glaube, dass die Bundesregierung hier wirklich in der Pflicht steht, schnell zu reagieren.Wäre Mazar-I-Sharif auch ein Fall für den Internationalen Gerichtshof? Juristisch ist das nicht möglich, es würde sich um eine rückwirkende Untersuchung handeln. Außerdem sind weder die USA noch Afghanistan dem Vertrag über den Gerichtshof beigetreten. Mir haben aber Leute von der Welthungerhilfe, die in Mazar-I-Sharif arbeiten, die Existenz der Massengräber bestätigt und sogar von 8.000 Toten gesprochen - während der Dokumentarist Jamie Doran in seinem Film über dieses Verbrechen noch von etwa 3.000 Opfern ausging.Das Gespräch führte Lutz Herden(*) International Security Assitstance ForceAndré Brie ist Mitglied der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europa-Parlament
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