Bruchstellen Die Rückschläge der Neunziger Jahre haben dazu geführt, dass die russische Gesellschaft bis heute nach einer postsowjetischen Identität sucht
Reitet den Tiger und rettet ihn: Wladimir Putin beim Petersburger Tiger Conservation Forum
Foto: Alexey Druzhinin / AFP / Getty Images
Ist die russische Gesellschaft heute so heroisiert wie die der westlichen Länder am Vorabend des Ersten Weltkrieges? Diese Frage stellte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler beim Petersburger Dialog im April. Sie erscheint berechtigt, schließlich lässt der Ukraine-Konflikt daran zweifeln, ob die russische Gesellschaft heute ähnlich tickt wie die westeuropäische, der militanter Patriotismus inzwischen eher fremd ist.
Die Antwort auf die Eingangsfrage scheint schnell gefunden. Ja, natürlich. Wie sonst wäre zu erklären, dass sich Wladimir Putin so hoher Popularität erfreut. Die Zustimmung liegt bei über 80 Prozent, so in- und ausländische Meinungsforscher. Dabei ist weniger die Zahl an sich bemerkenswert als vielmehr der Grund:
der Grund: Russlands Gesellschaft ist mit der Politik ihres Präsidenten in der Ukraine einverstanden, mit der Annexion der Krim wie der Einflussnahme in der Ostukraine. Hat also der russische Historiker Edward Radzinski noch immer recht mit seiner These zum vorrevolutionären Russland: Es sei einfacher, sich vorzustellen, dass es kein Volk gebe denn keinen Zaren? Ähnlich urteilte vor geraumer Zeit schon Radzinskis deutscher Kollege Dietrich Geyer: In Russland sei Gesellschaft als staatliche Veranstaltung zu betrachten.Kollaps und KatharsisDie internationale Russlandforschung hielt sich zuletzt an die These, dass die russische Gesellschaft nicht immer nur passiv gesellschaftspolitische Entwicklungen begleitete, sondern bei allen Schwierigkeiten versuchte, staatliche Zähmung abzulegen und in Maßen am politischen Leben teilzunehmen. Das zeigte sich in der Sowjetunion nicht zuletzt in den Anfangsjahren, als die Neue Ökonomische Politik viel Raum für Initiativen bot, oder in den „Tauwetterjahren“ während der späten Fünfziger und frühen Sechziger unter Nikita Chruschtschow. Die Generation der „Sechziger“ begleitete die Perestroika. Freilich musste der Staat in seiner Endphase einräumen, dass er die eigene Gesellschaft nicht kannte, wie KPdSU-Generalsekretär Juri Andropow 1983 zugab. Und doch wäre es falsch anzunehmen, die Sowjetgesellschaft hätte sich permanent in einem direkten Widerspruch zum Staat befunden. Dissidenten natürlich, aber es gab Millionen Menschen, vor allem aus der letzten Generation der UdSSR, die zwar der Ideologie kritisch gegenüberstanden, sich aber nicht als Opposition verstanden, sondern arrangierten.So ähnlich kann man sich die russische Gesellschaft heute vorstellen, ein Vierteljahrhundert nach dem Kollaps der Sowjetunion. Dank soziologischer Untersuchungen des Levada-Instituts, der Akademie der Wissenschaften und des Russischen Zentrums zur Erforschung der Gesellschaftsmeinung (WCIOM) lässt sich über die Jahre ein differenziertes Bild der russischen Gesellschaft skizzieren, das teils westlichen Mustern ähnelt, aber auch deutliche Unterschiede aufweist. Was nicht verwundert, denn mit der Transformation nach 1990 vollzog sich der Wandel in einem rasanten Tempo. Inzwischen sind die dramatischen wirtschafts- und sozialpolitischen Zäsuren verarbeitet, eine Konsolidierung hat eingesetzt. Geblieben ist eine Unzufriedenheit mit dem Staat, die sich vor allem gegen die soziale Ungerechtigkeit und Korruption richtet. Ungeklärt bleiben hingegen das Verständnis der Sowjetgeschichte, die Rolle Russlands in Europa und Asien, die eigene Identität. Zugleich könnten die Zustände im Inneren unterschiedlicher kaum sein. Die Geografin Natalja Zubarewitsch spricht von vier unterschiedlichen Russlands: dem der postindustriellen Großstädte (etwa 40 Prozent der Einwohner), dem der Arbeiter (25 Prozent), dem ländlichen (29 Prozent) und dem unterentwickelten Russland (6 Prozent).Während die Transformation in den mittelosteuropäischen Staaten mit dem klaren Ziel einer EU-Mitgliedschaft verbunden war, taumelte die russische Gesellschaft aus dem kollabierten sowjetischen Reich – mit anfangs großem Idealismus und dem Hoffen auf bessere Zeiten – schnell in eine schwere gesellschaftspolitische und ökonomische Krise. Das änderte sich erst in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Gaben 1995 fast drei Viertel der Bevölkerung ideellen Werten wie Freiheit den Vorrang, so war es 2010 nur noch knapp über die Hälfte – ein Ende der Illusionen.Rückkehr zur GroßmachtWie Erhebungen zeigen, werden als größte Errungenschaften der neunziger Jahre der Rücktritt des Präsidenten Boris Jelzin und der Antritt des Nachfolgers Putin gewertet. Entsprechend fällt die Beurteilung der einzelnen Perioden aus – nur zwei beziehungsweise vier Prozent der Bevölkerung werten die Zeit der Perestroika und die der Reformen danach positiv. Immerhin 14 Prozent schätzen die letzten 15 Jahre der Sowjetunion positiv ein. Doch den höchsten Wert erreichen mit 32 Prozent die Putin-Jahre. Auf die Frage, ob das Leben in Russland „normal“ sei, der Staat seinen Pflichten nachkomme und Sicherheit im täglichen Leben gewährleistet sei, antworteten 2000 nur zwei Prozent mit Ja – acht Jahre später 32 Prozent.Und doch hat sich bei weitem nicht alles zum Guten verbessert. So kritisieren noch immer viele Russen ihre schlechte materielle Lage, das Fehlen sozialer Garantien und die allgegenwärtige Korruption. Gleichzeitig wird die Einhaltung von Menschenrechten, von Meinungsfreiheit und Demokratie gefordert. Diese Wünsche stellen eine Konstante in den vergangenen Jahren dar. Die Unzufriedenheit birgt Gefahren für die Stabilität des Landes, die brüchig erscheint. Denn abgesehen vom Vertrauen in die Institution des Präsidenten (71 Prozent Zustimmung 2010) wird den anderen Institutionen wenig zugetraut, besonders den Parteien (12 Prozent Zustimmung 2010).Mit der gleichen Dringlichkeit, mit demokratische Reformen gewünscht werden, erhofft sich ein Teil der russischen Bürger die Rückkehr Russlands zur Großmacht (27 Prozent 2012). Aus soziologischen Untersuchungen der vergangenen Jahre erklärt sich die große Unterstützung, die Putin und dessen Vorgehen gegenüber der Ukraine zuteilwird. Zumal im Herbst 2013 über die Hälfte der Russen der Meinung war, dass die Ukraine als russisch anzusehen sei. Die tatsächlich russischen Nordkaukasusregionen Dagestan und Tschetschenien erhielten weniger Zustimmung.Verbunden mit dem Wunsch, dass Russland international mehr Einfluss und Autorität haben sollte, ist das anhaltende Misstrauen gegenüber dem Westen. So glauben heute 64 Prozent der Bürger, dass der Westen schuld am Konflikt in der Ukraine ist. Schon 2008 hielt fast die Hälfte der Russen die NATO-Osterweiterung für eine Gefahr. Diese hohe Zahl stand sicher im Zusammenhang mit dem Georgien-Krieg um die gleiche Zeit. In den Jahren danach, als die Wahrscheinlichkeit einer NATO-Aufnahme Georgiens und der Ukraine immer kleiner wurde, nahm die russische Furcht entsprechend ab. Auf die Frage, warum der Westen mit Russland zusammenarbeiten will, antworteten 59 Prozent der Russen im Jahr 2009, dass dessen Gründe vor allem in der Ausbeutung russischer Bodenschätze lägen. Nur ein Fünftel glaubte an die Absicht westlicher Staaten, mit Russland gleichberechtigt zusammenarbeiten zu wollen.In Russland wird noch immer zwischen westlichen und russischen Werten unterschieden. Dem Westen – Westeuropa und den USA – werden Werte wie Individualismus, Liberalismus und Demokratie zugeordnet. An die glaubten 1998 noch 43 Prozent der Russen. 2010 sackte die Quote auf ein Viertel ab, stieg aber 2012 wieder auf 46 Prozent. Dies mag der Modernisierungsrhetorik des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew geschuldet sein, der dabei besonders westliche Länder als Partner im Auge hatte. Markanter ist die Entwicklung der mit Russland verbundenen Werte wie Kollektivismus und straffe staatliche Führung. 1998 glaubte daran knapp ein Drittel, 2012 war es gut die Hälfte.Deutlich fällt in der Zeit von 2001 bis 2011 die Zustimmung zur Aussage aus, dass Russland eine besondere Zivilisation und mit der westlichen nicht in Einklang zu bringen sei. Sie lag konstant bei knapp 70 Prozent. Entsprechend niedrig ist die Zustimmung zur gegenteiligen Aussage, dass Russland sich am westlichen Modell orientieren solle. Dies ist erneut der Beweis dafür, dass die für viele Bürger so katastrophalen neunziger Jahre mit den Begriffen Westen und Demokratie in Verbindung gebracht werden, die erfolgreichen Putin-Jahre eher mit straffer staatlicher Führung und russischer Interessenwahrung.Dabei kommt dem in westlichen Gesellschaften so wichtigen Wertebegriff der Freiheit auch in der russischen Gesellschaft eine hohe Bedeutung zu. Doch das Verständnis ist ein anderes. In Russland wird Freiheit als Möglichkeit verstanden, sein eigener Herr zu sein – in letzter Konsequenz auch gegen die Freiheit eines anderen Menschen. Der zeitgenössische russische Schriftsteller Sachar Prilepin lässt das von einer Handlungsperson in seinem Roman Sankya drastisch so zusammenfassen: „Wir bringen einander um, weil in Russland die einen die Wahrheit so, die anderen anders verstehen. Das ist sowohl Blutbad als auch Erkenntnis.“ Der Traum der russischen Gesellschaft ist geprägt von dem Widerspruch, auf der einen Seite frei sein und auf der anderen einen starken Staat im Rücken haben zu wollen. Das hat freilich weniger mit Heldentum zu tun als vielmehr mit der Suche nach eigener Identität, die seit den neunziger Jahren anhält. Gefährlich wird es, wenn das russische Freiheitsverständnis Auswirkungen auf die internationale Politik hat.Placeholder authorbio-1
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