Leon, Luke und Ole führen ihren Besuch über das noch immer verwilderte Gelände, vorbei an ausgeschlachteten Bungalows, gefällten Pappeln und Haufen gerodeten Gestrüpps. „Am Anfang gab es hier nichts“, sagt Ole. Gekocht haben sie über einem Feuer, das Wasser mussten sie von einer sechs Kilometer entfernten Tankstelle herbeischaffen. Mittlerweile haben sie einen Schuppen als Küche eingerichtet. Im vergangenen Sommer wollten sie in selbst gebauten Kanus bis nach Hamburg paddeln.
Kurz vor Geesthacht mussten sie die Tour abbrechen, wegen schlechten Wetters. Weit und breit gab es keinen Campingplatz und keinen Laden. „Mehr als eine Stunde musste ich laufen, um Brot für die Gruppe zu kaufen“, erzählt Leon. Was wie der Erlebnisber
rlebnisbericht dreier Fremdenlegionäre klingt, sind O-Töne 13-jähriger Jugendlicher, die an einem „Arbeitseinsatz“ der Potsdamer Montessori-Oberschule im Rahmen des Landbauprojekts Schlänitzsee teilgenommen haben, das neuerdings Bestandteil ihres Curriculums ist. Das Projekt, das die Zeit im August mit einer Titelgeschichte würdigte, ist beispielhaft für die Unterrichtsformen, mit denen künftig sogenannte Jungenförderung betrieben werden soll.Denn glaubt man den Promotoren schulischer Landbauprojekte in Hamburg, Nordrhein-Westfalen oder Hessen, ähneln pubertierende Jungen wilden Tieren, die sehr schnell zu knurren beginnen, wenn sie in der Studierstube hocken. Schulleiterin Ulrike Kegler, die das Montessori-Projekt mitorganisiert hat, ist überzeugt, man könne Knaben dieses Alters „nicht die ganze Zeit in ein Klassenzimmer sperren“, schließlich wollten sie „ihre wachsenden Kräfte spüren“. Jens Großpietsch, Rektor der reformpädagogischen Heinrich-von-Stephan-Schule in Berlin-Moabit, spricht sich ebenfalls gegen den klassischen 45-Minuten-Unterricht aus, der den virilen Tatendrang hemme: „Die Jungen suchen in diesem Alter die Herausforderung. Sie wollen sich an echten Aufgaben beweisen und nicht vorgefertigte Fragen beantworten.“Mobilisierung zum permanenten GeländespielAuch die Schüler der Hamburger Winterhuder Gesamtschule starten wie Pfadfinder in jedes neue Schuljahr mit einer guten Tat: Sie überqueren die Dolomiten, unternehmen tagelange Fahrradtouren oder bauen Naturspielplätze. „Das Leben draußen mit den Fachinhalten zu verbinden“, sei das Ziel, fasst Kegler die Entdeckung jugendlichen Tatendrangs zusammen. Im Einklang vor allem mit linksalternativen Pädagogen preist sie die „handfesten Herausforderungen“ beim „Lernen in freier Wildbahn“. Unter dem Vorzeichen der Jungenförderung wird Abschied vom verkopften Frontalunterricht genommen und zum permanenten Geländespiel mobilisiert.Nicht zufällig bilden reformpädagogische Schulen in dieser Entwicklung die Vorhut. Bezugsrahmen der neuen Abenteuerpädagogik sind die Schriften des Erziehungsforschers Hartmut von Hentig, der in seinem 2006 publizierten Buch Bewährung – von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein die „Entschulung“ der Mittelstufe empfiehlt. Unter Entschulung versteht Hentig mehr als die Bemühung, Rücksicht auf die Bedürfnisse pubertierender Jugendlicher zu nehmen. Vielmehr plädiert er für eine „Pädagogik der Selbstverpflichtung“, die den „Leistungszwang“ ersetzen sollte, indem an die Stelle von „Belehrung“ der „Einsatz“ und das „persönliche Erlebnis“ treten.Mit zupackender Hand und heißem Herzen sollen die Heranwachsenden erfahren, dass „Selbständigkeit“ und „Dienst an der Gemeinschaft“ keine Gegensätze sind. Mit ihrer Feier der Gemeinschaft, ihrem Anti-Intellektualismus und ihrer Verachtung der angeblichen „Lebensferne“ schulischer Institutionen, denen eine „Schule des Lebens“ entgegengehalten wird, stehen Hentigs Schriften mit ihrer Vorliebe für Naturwüchsigkeit und kollektive Rituale in der Tradition der Lebensreform des frühen 20. Jahrhunderts.Auch im Eigentlichkeitspathos der Abenteuerpädagogen, ihrer Beschwörung von „Herausforderung“ und „echten Aufgaben“, klingt die Rhetorik der Lebensreformer nach. Während diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch auf die „Schwarze Pädagogik“ (Katharina Rutschky) der Erziehungsanstalten im Kaiserreich antworteten, existieren der sture „Leistungszwang“ und Frontalunterricht, gegen welche die neuen Reformpädagogen das „echte Leben“ geltend machen, inzwischen fast nur noch in deren Köpfen. Untersuchungen des Kriminologen Christian Pfeiffer oder das jüngst posthum erschienene Buch Das Ende der Geduld der Jugendrichterin Kirsten Heisig zeigen, dass die Probleme an den Brennpunktschulen gerade auf die Erosion des 45-Minuten-Unterrichts zurückzuführen sind.Didaktik des ÜberlebenskampfsWeil die Sachautorität der Lehrer zunehmend ausgehöhlt wird und Cliquenbildungen für den Schulalltag zunehmend an Bedeutung gewinnen, ist eine spezifische Wissensvermittlung kaum mehr möglich. Vor allem zeigt sich, wie überfordert Lehrer sind, wenn sie Psychologen, Sozialarbeiter und Familienersatz zugleich sein sollen. Die neue Reformpädagogik dagegen macht gerade die Bejahung der Clique sowie die „ganzheitlichen“ Aufgaben des Pädagogen zu ihrem Kernanliegen – jene Tendenzen also, die selbst Symptome der gegenwärtigen Schulkrise sind.Aber nicht nur Reformpädagogen, auch Maskulisten finden Gefallen an der Didaktik des Überlebenskampfes. Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, der eine „neue Männerbewegung“ fordert, um die „Benachteiligung der Hälfte der Bevölkerung“ zu beenden, möchte „typisch männliche Eigenschaften“ wie „Aggressivität“ und „Unruhe“ in der Erziehung rehabilitieren. Er plädiert für eine moderate Entzivilisierung schulischen Sozialverhaltens, die er vergangenen Monat in der „Zeit“ umrissen hat: „Typische Jungenmerkmale werden in der Schule nicht gewürdigt. So muss man im Unterricht still sitzen. Es muss Ruhe im Klassenzimmer herrschen. Jungen aber sind vom Naturell her raumgreifender, sie haben einen größeren Bewegungsdrang. Wenn sie aber raufen, wird dies sofort unterbunden.“ Grund der Misere sei, dass Frauen durch ihre jahrhundertelange Entrechtung Kompetenzen akkumuliert hätten, die jungen Männer abgingen. „Als das bisher benachteiligte Geschlecht“, meint Hurrelmann, entdeckten Frauen nun „die Mechanismen des Aufstiegs durch Leistung“, derweil die Männer „diese Entwicklung verschlafen“. Während Mädchen „mit typisch weiblicher Sensibilität den sozialen Code des Umgangs in der Gruppe“ entschlüsselten, falle dies den „instrumentell eingestellten Jungen“ schwerer.Das Abenteuer als SymptomGerade die unangenehmsten Aspekte „männlichen“ Sozialverhaltens wie Aggressivität und Machismo sind es also, für die man die Buben bemitleiden müsste, weil sie sich so ins soziale Aus beförderten. Mit Schulen, wo „Jude“ und „Schwuchtel“ Lieblingsschimpfwörter sind und Banden den Pausenhof beherrschen, haben solche Ansichten wenig zu tun. Auch zu den Erkenntnissen der zuletzt 2007 erstellten TIMS-Studie, die Leistung und Selbstbild von Schülern in den Naturwissenschaften untersucht, stehen sie im Widerspruch. Diese diagnostiziert, dass Jungen in ihrer Leistungsfähigkeit mehrheitlich nicht unterschätzt werden, sondern sich selbst überschätzen: Sie halten es für unnötig, sich anzustrengen, und beurteilen ihre Fähigkeiten weniger realistisch als Mädchen. Ein Grund dafür dürfte das Fortwirken jener „typisch männlichen“ Rollenmuster sein, die Hurrelmann noch stärken will.So abwegig sie wirkt, ist die pädagogische Begeisterung fürs Abenteuer das Symptom einer sozialen Konstellation, in der die Individuen zur Sicherung ihrer ökonomischen Existenz zunehmend auf den blinden Naturzwang regredieren, obwohl sie wissen, dass ein besseres Leben für alle möglich wäre. Für das Versprechen eines solchen Lebens stand einmal die bürgerliche Schule mit dem Ideal allgemeiner Bildung. Je stärker Jugendliche die Kluft zwischen der Möglichkeit von Freiheit und der realen Unfreiheit erfahren, desto lauter wird statt der angeblich lebensfernen „Wissensgesellschaft“ eine Erlebnis-Pädagogik, die nur noch auf das vorbereitet, was den meisten wohl tatsächlich bevorsteht: auf den Überlebenskampf, der verbissen „Bewährung“ genannt wird.
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