Bei der Entscheidung über den künftigen Staats chef der Ukraine kommenden Sonntag hat Amts inhaber Leonid Kutschma wenig Chancen, schon im ersten Wahlgang bestätigt zu werden. Wegen der wirtschaftlichen Talfahrt, die sich zuletzt noch beschleunigt hat, ist das Image des Präsidenten angeschlagen. Wenn für den Zentristen dennoch eine weitere Amtszeit möglich scheint, dann weil sich die Stimmen der Protestwähler gleich auf drei profilierte Kandidaten der Linken verteilen können.
Die Euphorie von 1991, als viele Menschen hofften, die Ukraine werde zügig in die EU aufgenommen und der Lebensstandard sich schlagartig verbessern, ist verflogen. Die Unzufriedenheit über die desolate Wirtschaftslage führte schon bei den Parlamentswahlen im Vorjahr zu einem Durchmarsch der Linken. Die Kommunisten wurden mit fast 25 Prozent der Stimmen stärkste Fraktion (123 Sitze), zwei sozialistische Parteien erreichten gemeinsam 13 Prozent. Von einem "roten Parlament" in Kiew ließ sich dennoch kaum reden, waren doch von den 450 Abgeordneten allein 115 parteilose Direktkandidaten.
Unter dem Eindruck dieser Polarisierung suchte Leonid Kutschma sein Heil in einer Politik der Mitte, die ihn erst recht unter Beschuss geraten ließ. Westlich orientierte Marktwirtschaftler kritisierten ihn, weil er die ukrainischen Industriegiganten noch immer nicht zu privatisieren wagte - die linke Opposition warf ihm vor, die nationale Ökonomie dem Diktat des IWF auszuliefern.
Auch außenpolitisch verschrieb sich der Präsident einem Kurs des Ausgleichs und lavierte "zwischen den Blöcken", sprich: zwischen Russland und Westeuropa. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1994 war Kutsch ma noch mit erkennbar prorussischer Camouflage angetreten. Russisch sollte gar zweite Staatssprache werden. Die Kommunisten unterstützten damals seine Wahl. Einzige Staatssprache wurde dann Ukrainisch. Tatsächlich aber bleibt Politik in der Ukraine an die russische Sprache(22 Prozent sind Russen) gebunden, die angesehene Kiewer Zeitung Serkalo Nedeli etwa - sie steht Kutschma nahe - erscheint in Russisch. Der einflussreiche private Fernsehkanal STB sendet Wirtschaftsnachrichten nur in russisch - Begründung: Es gäbe keine ausreichend qualifizierten ukrainischen Journalisten.
Es gehörte zu Kutschmas Balanceakt zwischen West und Ost, heikle Streitfragen wie die Aufteilung der Schwarzmeerflotte oder die Kompensierung der ukrainischen Gas-Schulden mit Boris Jelzin möglichst geräuscharm zu regeln und gleichzeitig auf Fühlungnahme mit dem Westen zu achten. Allerdings ohne unpopuläre Konzessionen. Als die NATO im Frühjahr Jugoslawien bombardierte, sparte Kiew nicht mit Kritik. Trotzdem wolle man langfristig durchaus Mitglied des Nordatlantik-Paktes werden, richtet Michail Doroschenko, der Chef von Kutschmas Wahlstab, den Blick in die Zukunft. Ein solches Ziel werde im Zentrum und im Westen der Ukraine "normal" aufgenommen - "im Osten nicht immer". Denn dort - im russischsprachigen Teil des Landes - hätten Sozialisten und Kommunisten ihre Klientel.
Im stark verarmten Nordosten ist dabei eine Kandidatin besonders agil, die Radikalsozialistin Natalja Witrenko. Sie trommelt nicht nur für einen Bund mit Russland und Belarus, sondern will auch die ukrainischen Auslandsschulden für drei Jahre einfrieren. Der IWF zerstöre zielstrebig die ukrainische Ökonomie, ruft Witrenko auf jeder Wahlkundgebung. Bald könnten Hungeraufstände ausbrechen und Atomkraftwerke außer Kontrolle geraten. Das sei dann die Stunde der NATO, um in der Ukraine einzumarschieren.- Natalja Witrenko, vor zwei Jahren mit dem Medienpreis "Frau des Jahres" ausgezeichnet, gehörte bis 1996 dem Präsidium der Sozialistischen Partei an, doch deren Chef Alexander Moros attackiert sie heute nicht nur wegen "Versöhnlertums" gegenüber dem IWF, sie beschuldigt ihn auch, mit Pawlo Lasa renko unter einer Decke zu stecken. Der Ex-Premier hat sich mit Millionen Dollar in die USA abgesetzt - und die ukrainischen Behörden fordern seit Monaten vergeblich seine Auslieferung. Frau Witrenko, die inzwischen ihre eigene Partei, die Progressiven Sozialisten, hinter sich schart, beschuldigt Moros auch, er sei Auftraggeber des Handgranatenanschlags gewesen, bei dem sie Anfang Oktober zusammen mit 40 ihrer Anhänger verletzt wurde. Die Schuldzuweisung entbehrt insoweit einer gewissen Logik, als von vornherein klar war, dass sich Moros mit einem Attentat vor allem selbst schaden würde.
Witrenko findet immer dann offene Ohren, wenn sie bei ihren öffentlichen Auftritten anhand großformatiger Statistiken erläutert, wohin der IWF das Land geführt habe. Der Einbruch des Bruttosozialprodukts seit 1991 sei mit 60 Prozent mehr als doppelt so groß wie zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Jene mutmaßlich "500 Familien", die Millionen Dollar ins Ausland geschafft haben, will sie zur Verantwortung ziehen und marktwirtschaftlich orientierte Regierungsmitglieder gegebenenfalls zur Arbeit in den Uranbergbau abkommandieren. In ihrem Populismus ähnelt Witrenko gelegentlich dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko, den sie allerdings "nicht kopieren" will. Nach der letzten Prognose liegt die 48-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin, die nach Angaben ihrer Partei auch von ukrainischen Geschäftsleuten unterstützt wird, mit 18 Prozent auf Platz zwei - hinter Leonid Kuschma (s. Übersicht). Dagegen verführen die Aussichten der im August gegründeten Mitte-Links-Allianz von Sozialistenchef Alexander Moros kaum zur Euphorie. Zusammen mit dem eher rechts stehenden Ex-Geheimdienstchef Jewgeni Martschuk, dem Chef der Agrarier und Parlamentssprecher Alexander Tkatschenko und dem Bürgermeister von Tscherkasy, Wladimir Olijnyk, wollte das Bündnis seinen Kandidaten erst wenige Tage vor der Wahl nominieren. Dieses Vorhaben jedoch ist gründlich misslungen. Angesichts der Platzvorteile von Kutsch ma und des Vorsprungs von Witrenko keine sonderlich überzeugende Strategie. Kutschma kann sich im Wahlkampf nämlich ganz auf die Zugkraft der Medien und seine Verbindungen zur Wirtschaftsnomenklatura in der ostukrainischen Kaderschmiede Dnepropetrowsk verlassen, wo er einst als Direktor der größten sowjetischen Raketenschmiede gearbeitet hat.
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