Der Vorwurf, die Bürger wüssten nicht, wofür die CDU-Chefin Angela Merkel stehe, kann nach der Rede vom 1. Oktober im Deutschen Historischen Museum nicht mehr erhoben werden. Im lichtdurchfluteten "Schlüterhof" bezog die Parteivorsitzende in allen wichtigen Fragen Position und präsentierte sich als Politikerin mit festen Grundsätzen. Aus Merkels Umkreis hieß es: "Das war ihre Bewerbungsrede als Kanzlerkandidatin." Doch entschieden ist damit der Machtkampf innerhalb der Union freilich noch nicht. Es scheint eher, als hätten sich nach Merkels Rede die internen Konflikte verschärft.
Und der Vorsitzenden mag dies ganz recht sein, denn sie steht nun dort, wo sie in diesen Tagen aus taktischen und strategischen Gründen nicht besser stehen kön
n könnte: an einem Schnittpunkt der Macht, zwischen der zerstrittenen SPD-Bundestagsfraktion des sich nur mit Rücktrittsdrohungen haltenden Kanzlers und einer fragilen Männerkoalition innerhalb der Unionsparteien CDU und CSU, die den Bundesrat dominiert.Schröder weiß, wie abhängig er von seinen Gegnern ist, deshalb will er auf Merkel zugehen, sie als Vermittlerin nutzen, womöglich als heimliche Koalitionärin, die ihm damit noch ein wenig Zeit schenken würde, bis zur Wahl 2006. Und Schröder weiß nur zu gut, dass es nicht wenige innerhalb der Christen-Parteien gibt, die lieber Neuwahlen hätten. Wie Jagdhunde, die das Blut eines verwundeten Ebers gerochen haben, wittern vor allem Roland Koch und Edmund Stoiber, dass die Regierung angeschlagen und womöglich kurz davor ist, aufzugeben. Und könnte man dann nicht Rot-Grün in Neuwahlen zerreißen?Merkel verfolgt jedoch eine andere Strategie und zeigt, wie hart und erzkonservativ sie sein kann. Beim Thema Pflegeversicherung unterstützt die Unionsfrau "ein individuelles Kapitaldeckungsverfahren". Das effektive Renteneintrittsalter müsse um "mindestens vier Jahre steigen", sagt sie in ihrer Rede. Die Renten müssten sinken, die Flächentarifverträge passten nicht mehr in die Arbeitslandschaft des 21. Jahrhunderts.Prompt meldeten sich die "Parteifreunde" mit heftiger Kritik zu Wort. Gesundheitsexperte und CSU-Vize Horst Seehofer lehnt die Pflegeversicherungsreform à la Herzog-Kommission, die Merkel einst einsetzte, als "unsozial" ab. Auch der Arbeitnehmerflügel innerhalb der Union kündigt Widerstand gegen den Kurs der Vorsitzenden an und will beispielsweise, dass zahlreiche Kassenleistungen sowie die Zahnbehandlung nicht gestrichen werden. Viele erkennen ihre Parteichefin nicht wieder, heißt es in Unionskreisen. Noch vor Wochen zauderte sie, eindeutig Stellung zu beziehen und sich auf eine Reformdebatte oder eine Totalblockade gegen die Schröder-Agenda-2010 einzulassen (Freitag 36/2003). Auch schien sie zu geschwächt, um ihre Dauerrivalen Koch und Stoiber in den Hintergrund zu drängen im Kampf um die "Kandidatenkrone". Der Männerklüngel innerhalb der Partei strickt ja seit langem am Sturz der in Wählerumfragen beliebten Politikerin (Freitag 26/2003). Merkel hat nun ihre Strategie geändert und bedient sich der "Zuckerbrot-und-Peitsche - Methode"."Mit mir wird es keine Totalblockade geben", ließ sie die Zuhörer im Schlüterhof wissen und signalisierte dem angeschlagenen SPD-Regierungschef, dass sie zu Verhandlungen bereit sei. Gleichzeitig trat sie als neoliberale Thatcher-Tochter auf. Den Abweichlern in Schröders Reihen könnte dies gezeigt haben, wie schlimm es kommen kann für den Sozialstaat. Mit anderen Worten, die neuformulierte Politik der Oppositionsführerin ist ein Argument für Schröder, um die eigene Fraktion zur Geschlossenheit zu mahnen. Am 17. Oktober wird im Bundestag über das Hartzpaket abgestimmt, das die Union ablehnen wird. Der Kanzler bangt um die eigene Mehrheit, da kommt ihm die harte Merkel gerade Recht. Und auch sie selbst braucht insgeheim den Abstimmungssieg Schröders, denn Neuwahlen zu diesem Zeitpunkt wären ihr nicht genehm. Was zunächst paradox erscheint, ergibt durchaus einen Sinn, denn ein Sturz der rot-grünen Regierung würde vor allem Stoiber helfen, der immer noch ins Kanzleramt will und auf seine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bayern verweist. Dies kann Merkel nur durch eine Mischung aus Drohungen und Kompromissbereitschaft gegenüber der Regierung abwenden. Vordergründig redet man natürlich nur über Inhalte und Sachthemen. Alles im Dienste Deutschlands versteht sich.Im Dienste der Republik sehen sich auch die Merkel-Gegner, die nun das soziale Gewissen treibt, die aber tatsächlich ihre eigenen Ziele verfolgen. Dass die Vorsitzende nämlich geschickt zwischen den beiden Machtpolen Bundesregierung und Unions-Blockademehrheit im Bundesrat zu lavieren versucht, dürften die Landesfürsten in München und Wiesbaden durchschaut haben. Nur verfügen sie trotz ihrer Stärke nicht über die geeigneten Hebel, um ihre Parteichefin zu stoppen. Wenn Schröder mit der Vorsitzenden der größten Oppositionsfraktion reden will, können die Parteigranden Stoiber und Koch nur zuschauen. Also schieben sie jetzt, in der Frühphase der Debatte Männer vor, die Einwände artikulieren. Wie den Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse Hermann-Josef Arentz und den Sozialexperten Karl-Josef Laumann, die im Parteipräsidium ihre "Bedenken" gegenüber der Vorsitzenden äußerten. Wenn das Präsidium mit zwei Gegenstimmen und einer Enthaltung die Ergebnisse der Herzog-Kommission billigte und als Leitantrag auf dem Parteitag im Dezember einbringen will, bedeutet dies, dass Merkel auf Konfrontationskurs geht. Stoiber lehnt das Herzog-Papier rigoros ab. Seine Partei sei stark sozial eingestellt - "mehr vielleicht als manch andere Partei". Zudem warnte der Unions-Haushaltsexperte Dietrich Austermann vor einem Vorziehen der rot-grünen Steuerreform um ein Jahr auf Pump und griff damit Merkel an, die zuvor einer begrenzten Kreditaufnahme zugestimmt hatte. Das sorgte für Empörung. Angeblich sollen die Drähte zwischen den Staatskanzleien in Bayern und Hessen heiß gelaufen sein, weil die Landesherren sich miteinander "abstimmen wollten", heißt es. Tatsächlich dürften sich beide vor allem über eines unterhalten haben: Merkel.Sie steht dieser Tage als wichtigste Partnerin des Kanzlers im Mittelpunkt des Medieninteresses und will die grandiosen Wahlerfolge ihrer Rivalen aus Hessen und Bayern mit der Zeit vergessen machen. Und dann nach der Kandidatur greifen.