Novelle von Hatice Acikgoez: Weder in der Türkei noch in Deutschland zu Hause

Familientradition Hatice Acikgoez’ kleine Erzählung ist nur 18 Seiten lang, aber die haben es in sich. In „ein oktopus hat drei herzen“ beschreibt sie eine intensive Suche nach Identität
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 31/2022

Der Umschlag, in dem das Büchlein mich erreicht, wiegt fast nichts. Jedes Wort aber wiegt. Ich lese ein oktopus hat drei herzen in einem Zug, was nicht schwer ist, bei achtzehn Seiten. Achtzehn wird auch die beste Freundin der Erzählerin, mit deren Geburtstag die Handlung beginnt.

Sie bestellt Oktopus, in einem Restaurant. Diesen Oktopus schaut die Erzählerin an, während die anderen über Partys reden. Sie kann nicht mitreden. Die einzigen Partys, die sie erlebt, werden von ihrer Mutter veranstaltet: „sie geht mit 40 noch auf partys für junge erwachsene, trifft sich mit typen, die sie im internet kennenlernt, und steht immer im mittelpunkt.“ Im Mittelpunkt auch des Blicks ihrer Tochter, der es schwerfällt, sich aus der Verbindung zu lösen: zur Mutter, vor allem aber zur Großmutter, die sie bei ihrem Namen nennt: Hürü, um deutlich zu machen, dass auch Großmütter Frauen sind.

Auf Hatice Acikgoez wurde ich aufmerksam durch ein Gedicht in der österreichischen Literaturzeitschrift mosaik. Ebenso lakonisch wie wütend erzählt es davon, wie einer Schülerin ihr Hidschab „als zeichen des terrors“ entrissen wird, und ergreift Partei für die Freiheit „meiner mutter / meiner schwester / und meiner besten freundin“, trotz ihres Kopftuchs dazuzugehören.

Die in Deutschland aufgewachsene Erzählerin stört sich als Einzige in der Familie daran, dass ihre Großmutter nicht lesen kann, und rebelliert gegen die Unterdrückung von Frauen, die vor ihrer Mutter nicht Halt macht. Als diese ihrem älteren Cousin, der dafür verantwortlich ist, dass sie die Schule abbrechen musste, aus „Respekt“, wie sie es nennt, die Hand küsst, fragt die Erzählerin: „wo ist dein respekt dir selbst gegenüber geblieben?“ Sie fühlt sich fremd in dem Land, aus dem ihre Mutter stammt: „die türkei ist nicht unser zuhause. das dürfen wir allerdings nicht zugeben. weder hier noch in deutschland.“ Wir, das ist der Halbbruder, mit dem sie nicht den Vater, wohl aber ihre Gedanken teilt. Er steht ihr näher als die weiblichen Familienmitglieder, die sich von Männern beugen lassen. Der Oktopus auf dem Teller, dessen Bild in ihren Blick fiel, wird zum Bild für eine Ordnung, in der es Frauen wie den Oktopussen geht, die, kaum haben sie Eier gelegt, „bis an ihr lebensende bloß noch vor sich hin vegetieren“.

In der Türkei verwurzelt

Die Erzählerin wirft sich in die Recherche über den fremden Oktopus, der ihr vertraut wird, als sie herausfindet, dass er drei Herzen hat: ein Hauptherz und zwei unterstützende Herzen. Vor ihrem Tod äußert Hürü als letzten Wunsch, ihre Tochter möge, wie es sich gehört, künftig ein Kopftuch tragen. Dieser letzte Wunsch der Großmutter, den ihre Tochter erfüllt, ist der Auslöser für die schlichte Erzählung von Hatice Acikgoez, die gleich einer Novelle von einer „unerhörten Begebenheit“ (Goethe) erzählt: von der Emanzipation einer jungen Schriftstellerin, die das Erbe ihrer Großmutter mithilfe des Bildes vom Oktopus zugleich verrät und erfüllt, indem sie sich wünscht, ein unterstützendes Herz für ihre Mutter und eines für Hürü zu haben. Integration bedeutet Verrat, wenn man ein Herz hat, das sich zerrissen fühlt. Wer drei Herzen hat, muss sich nicht teilen.

Der Oktopus, der im Lauf der Erzählung vom Teller der Freundin bis in die Seele der Literatur wandert, wird zum Bild für den Schachzug der Erzählerin, ihr Herz zu weiten, statt es zu zerstören. In ihr schlagen zwei (unterstützende) Herzen für ihre (in der Türkei verwurzelte) Großmutter und ihre (kulturell zerrissene) Mutter, das Hauptherz aber rettet sich ins Schreiben: um von dort aus für eine weibliche Freiheit zu plädieren, die sich in Liebe realisiert. Der Schmerz und die Wut, die spürbar sind, richten sich gegen wirkliches, nicht erfundenes Unrecht. Die Schönheit der Sprache vibriert von gelebten Widersprüchen. Die Liebe der Autorin gilt denjenigen, die keine Sprache haben. Das macht ihren Oktopus groß, obwohl jedes Wort kleingeschrieben ist. Es ist keine Manieriertheit in dieser Kleinschreibung. Sie passt. Alle Wortarten sind gleichwertig. Wie in der Lyrik, aus der die Autorin kommt. Jedes Wort auf den achtzehn Seiten sitzt. Jedes Wort stellt die Frage, was wir unter Freiheit verstehen. Weiblicher Freiheit. Daraus hätte auch ein Roman werden können. Stoff genug wäre da.

Hatice Acikgoez hat den Drive, den Literatur braucht

Das Cover erinnert nicht zufällig an Reclam-Hefte. Die Assoziation an schulische Pflichtlektüre passt zur impliziten Fragestellung der Erzählung, ob im etablierten Bildungsbegriff nicht etwas fehlt: „ich sitze an meinen hausaufgaben und höre meine mutter weinen.“ Die lapidare Protokollierung von Widersprüchen, die in der Schwebe gehalten werden, zeugt Sätze von einer Schönheit, die sich einbrennt. Schmerz ist spürbar, Wut. Vor allem aber viel Liebe.

Aktuell hat Hatice Acikgoez, der man auf Instagram unter #allesinterpretationssache folgen kann, einen Open Call für Texte zu sexualisierter Gewalt gestartet. Nächstes Jahr will sie einen Lyrikband publizieren. Sie hat den Drive, den Literatur braucht, um eigene Erwartungen zu artikulieren. Unbedingt lesenswert. Und das für nur drei Euro, passend zu den drei Herzen.

Info

ein oktopus hat drei herzen Hatice Acikgoez sukultur Verlag 2022, 18 S., 3 €

Lea Martin ist Autorin und Verlegerin, siehe www.joanmartin.de

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