Hauptsache Liebe

NIEMAND EXISTIERT FÜR SICH ALLEIN Bart Moeyaert steckt seine Figuren in ein kompliziertes Beziehungsgeflecht

Liebe - über kein Gefühl ist so oft philosophiert, geredet, gesungen und spekuliert worden. Keine Emotion inspiriert die Menschen mehr, nichts hält sie mehr in Atem. Doch schließlich muss jeder Einzelne von uns erkennen: "Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen."

Dieses sachliche, fast ernüchternde Fazit zieht der junge flämische Erfolgsautor Bart Moeyaert. Alles dreht sich um die Liebe, dabei fällt das Wort an sich kein einziges Mal. Doch Moeyaert war schon immer ein Meister der subtilen Untertöne. Er muss nicht aussprechen, was er sagen will, muss nur seine Figuren reden lassen. Die dürfen toben, sich streiten, schreien, schweigen, lachen, trauern, kotzen und schmusen - man muss nicht von der Liebe sprechen, um Liebe zu zeigen, sie auszuleben oder "auszuleiden".

Eine ganz gewöhnliche Familie, so scheint es auf den ersten Blick: Eine allein erziehende Mutter, ein fast erwachsener Sohn, eine verheiratete Tochter, eine Schwester im Teenie-Alter (die Ich-Erzählerin) und das Nesthäkchen, etwa vier oder fünf Jahre alt. Die Liebe, die sie miteinander verbindet, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich: Mutter und Sohn liegen sich heftig in den Haaren, während die Familie samt Liebhaber der Mutter, einem gewissen Herrn Bordzek, auf dem Weg zur ältesten Schwester ist. Es ist brütend heiß. Der Sohn hält abrupt den Wagen an, steigt aus. Die Mutter folgt ihm. Das Mädchen nimmt die kleine Schwester an der Hand und geht ein paar Schritte. Hinter ihnen explodieren die Gefühle: Schreie, Anschuldigungen, Zurückweisungen, Hiebe, Schläge. Und der Stein des Anstoßes, jener Bordzek, hockt seelenruhig im Auto, als wäre nichts geschehen. Warum will die Mutter bloß die Wahrheit nicht sehen, wenn doch selbst die Jüngste die Geräusche, die fast jede Nacht aus dem Zimmer des großen Bruders kommen, kurz bevor Bordzek den Raum verlässt, wahrnimmt und einordnen kann? Liebt sie diesen Fremden, der sie ignoriert und sogar beschimpft, so sehr?

"Ich mische mich auch nicht in dein Leben ein. Abgemacht?", sagt die Mutter, als beende sie damit eine Diskussion. "Nein, Mutter", sagt der Sohn. "Mein Leben und deins vermischen sich, Mutter. Es ist so, wie es ist." Die Art, wie Moeyaert die Liebe zwischen Mutter und Sohn zum Ausdruck bringt, ist außergewöhnlich.

Kann der Mensch mutterseelenallein überleben? Dies beantworte jeder, wie er will - Moeyaert jedenfalls bezieht eine eindeutige Position: Ein Mensch ohne Liebe, ohne menschliche Zuwendung, ist verloren. Ob Geschwisterliebe, Nächstenliebe, Liebe zu den Eltern, Liebe zum Partner - hetero oder schwul - Hauptsache LIEBE. Mit einer Sprache, die nur die Spitze des Eisbergs freilegt, beschwört der Autor eine Welt herauf, in der alles und jeder miteinander in Zusammenhang steht. Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge - nichts existiert für sich allein, alles hat einen Sinn und einen Platz im Leben. Ob diese Existenz von Liebe erfüllt wird, hängt allein von den Menschen ab, die, da sie der Liebe fähig sind, im Zentrum dieses Kreislaufs stehen. Moeyaert steckt seine Figuren in ein komplexes und kompliziertes Beziehungsgeflecht, darin sie einen Reigen tanzen, stets um Wärme und Geborgenheit bemüht, und doch ständig im Zweifel, ob der Sehnsucht nach Liebe auch Erfolg beschieden sein wird. Der Autor, der bereits für Bloße Hände mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, hat mit seinem neusten Werk wieder ein beeindruckendes Stück Literatur abgeliefert.

Bart Moeyaert: Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler, Verlag Beltz Gelberg, Weinheim 2001, 111 S., 22,- DM (ab 13)

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