Immer, wenn Berlin sich selber feiert - und Wahlkampf ist hauptsächlich das - wird deutlich, dass die Substanz der Stadt die Grenze ist. Die Grenze zwischen Ost und West. Das Niemandsland dazwischen versucht die Politik zu besetzen. Der Witz ist nur, dass spätestens seit dem Fall der Mauer das Niemandsland nicht mehr existiert, außer in den Köpfen - um einen gängigen Slogan zu benutzen. Die sogenannte Lokalpolitik ist von der sogenannten Weltpolitik nicht zu trennen. Der SPD-Senator Strieder irrt, wenn er im wahltaktischen Manöver meint: "In Berlin wird keine Außenpolitik gemacht." Das machen schon die Lemuren im Kanzlerbunker.
Nun muss ein Politiker nicht fließend Russisch, Polnisch, Türkisch, Tschechisch, Serbokroatisch, Mazedonisch oder Hindu
der Hindu sprechen, um unter drei Millionen Deutschen und der halben Restmillion Ausländer als glaubwürdig zu gelten. Doch die gerade jetzt behauptete Westanbindung der bundesrepublikanischen Hauptstadt ist topographisch nur die halbe Wahrheit. Scheherezade ist auch das Neue Berlin, das hippe, das coole, das New Economy Berlin - das im Osten angesiedelt sein soll, aber der Osten reicht diesbezüglich über den Ostbahnhof nicht hinaus. Dass der seinen Namen von der Gleisanbindung nach Ost- und Südeuropa hat, wird ausgeblendet. Tatsächlich aber lässt sich Berlin lokalpatriotisch nicht mehr vereinnahmen. Im Wahlkampf wird genau das fortwährend versucht. Und wo es nicht klappt, beschimpfen die Kandidaten einander als provinziell.Die als Bundesprominenz angekündigten Gastredner der Parteien - Stoiber, Kohl für die CDU, Schröder, Müntefering für die SPD, Trittin und anderen für Grün - beschwören ihre Koffer, die sie in der Stadt haben und betreiben überdies Stimmenfang mit den populistischen Themen. Sicherheit ist dieses Jahr der Hit. Staatssicherheit.In den Augen der Bundespolitiker ist nach machtpolitischem Kalkül die Hauptstadt der Gipfel. Was für die Stufenleiter der Macht vielleicht gilt, ist für die Bewohner der Stadt, zu denen ja eine Handvoll Politiker gehört, ganz falsch. Berlin, 30 Meter über dem Meer, ist der schwärende gärende Lymphknotenpunkt Deutschlands, Mitteleuropas, die Zentrale alles Unfertigen, Werdenden, Lebendigen und Kranken. Und die Geschichte dieser Hauptstadt zeigt: sie kann nicht erobert werden, hier kann man sich höchstens behaupten.Hauptstadt - Kopfstadt sollte man denken. Nichts davon. Im Wahlkampf nicht. Wahlkampf nach nordamerikanischer Methode, derer sich CDU, SPD, PDS und FDP und Grüne bedienen, ist die Kopie eines kopierten Rituals. Wer ausbricht, um seine Glaubwürdigkeit zu wahren, verliert seine Glaubwürdigkeit. Wie sonst ist die Verklammerung der Kandidaten noch im tiefsten Stumpfsinn zu verstehen? Etwa in der Band Die Spitzenkandidaten, in der die nämlichen (vier Männer, eine Frau) das Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens intonieren. Wer glaubte, Udo Lindenbergs Berlin-Hymne wäre nicht zu unterbieten, sieht sich nun enttäuscht. "He-e-e-y, he-e-e-y Berlin, am Sonntag ist Wa-a-a-a-hl / Wir gehen alle hin!" Man muss das nicht hören, um nichts mehr glauben zu können. Die gute Absicht kann hinter "heißem Rapp zu stampfendem Beat gegen die Nichtwähler" nicht verborgen bleiben. Anscheinend war der Zusammensturz des WTC doch nicht das größte Kunstwerk der Geschichte. Berlin hat Größeres zu bieten.Natürlich fällt nicht alles derart hedonistisch aus. Zum Sturm vor der kommenden Ruhe gehört das Gewitter hinter den Kulissen wie das Blitzlicht zum Kandidatenporträt. Vier Tage vor dem Urnengang tritt der Dämon der Sozialdemokraten in Erscheinung. Der Dämon sieht wie Bismarck aus, ist Sozialdemokrat und kommt mit dem Sozialistengesetz. Für die Presse heißt das, Peter Struck äußert "lediglich seine persönliche Meinung". Für Berlin heißt das Große Koalition. Für die SPD hieße das Abschied von Wowereit, der - schwul hin, schwul her - alles mit sich machen lässt, außer eben: Große Koalition. Dann lieber Gruppensex mit FDP und Grün oder völlig pervers, Senat mit Kommunisten. Aber Wowereit wäre kein ausgekochter Swinger, wenn er nicht auch die Koalitionsaussage von vornherein schon relativiert hätte, nämlich: "Eine Koalition mit dieser CDU wird es mit mir nicht geben." Vielleicht gibt es nächsten Montag schon eine andere CDU, das würde niemanden wundern. Schließlich steht Frank Steffel, wie er selber sagt, für Lernfähigkeit. Die wird er brauchen.Schon wird bundesweit über das Nachleben der kurzlebigen CDU-Hoffnung Steffel nachgedacht. Die alten Würfel fallen wieder, und was in Berlin verloren geht, wird als Kollateralschaden des Bundeswahlkampfes in Kauf genommen. Für die affärenmäßig kontaminierten CDU-Kandidaten ist Berlin so was wie Steffelpause, die neue Geschäftsführung Merkelquarantäne - wenn Anfang nächsten Jahres Schäuble aus der Tiefgarage rollt und Tacheles reden wird.Hauptstadt - Kopfstadt, sollte man denken. Wie schwer es den Kandidatenköpfen fällt, Profundes zur Hauptstadt zu äußern, dem Begriff überhaupt ein Profil geben zu können, verführt einen zu der Überlegung, ob das Profil der Stadt nicht deren Profillosigkeit ist. "Fertig" wird in dieser Zeit und in nächster Zeit eine Stadt wie Berlin jedenfalls nicht werden. Das hat die Position Berlins im Zentrum der Geschichte bislang unmöglich gemacht. Im Zug der Globalisierung wird das so bleiben. Zukunftsträchtig ist weniger der Wirtschaftsstandort, sondern das kulturelle, intellektuelle Potential einer Hauptstadt. Weltstadt. Metropole.Metropole bedeutet Mutterstadt dem Wortsinn nach. Mutter aller Städte, wovon in Berlin immerhin zwölf mit einer durchschnittlichen Einwohnerzahl von knapp 300.000 existieren. Und nur wo Metropole ist, kann Weltstadt sein. Ob das nötig ist, ist eine Frage, die nicht mehr gestellt werden muss. Mit seiner Berlin-Rede hat Gysi (der Mann, der die Partei weit hinter sich weiß) die nächste Frage zumindest angesprochen. Das Verhältnis Berlins zu sich selbst. Die Hauptstadt neuen Typs. Ost und West sind nicht mehr nur Metaphern für Unten und Oben, Links und Rechts und Arm und Reich. Ost und West bedeutet Schnittpunkt einer ganzen Welt, zu der auch Nord und Süd gehören. Die Konflikte im Auge dieses globalen Strudels werden die Stadt tiefer prägen als ein Parteiprogramm umgeschrieben werden kann. Für eine derartige Herausforderung braucht Berlin nicht allein "Jobs Jobs Jobs" wie die wahlidiotensichere Zukunftsparole der Großparteien lautet, Berlin braucht Köpfe.Vorherrschend ist dagegen eher der Kopfschuss, der in der Stadt vor allem vom Zentralorgan des militanten Analphabetismus gepflegt wird. "Schweine-BZ" nennt der Volksmund liebevoll "Berlins größte Zeitung". Dort funktioniert das so: Am Montag, 15. Oktober, titelt das Blatt, im Layout etwa zwischen Girl und Stürmer angelegt, mit Ingeborg, 60, aus Reinickendorf. "Auch SIE wurde von Bin Laden ermordet!" Übersetzt und zusammengesetzt aus den eigenen Schlagzeilen bedeutet das: Reinickendorf, der Bezirk, aus dem der spitzen Kandidat Steffel herkommt, hat eine Wählerin verloren! Eine Wählerin, die in New York, USA, der Terror-Bestie, Mohammed Atta, 33, Hamburg, zum Opfer fiel! Und wer, liebe Berlinerinnen und Berliner, hat um die Opfer am meisten getrauert!? Das war und ist immer noch Frank Steffel, 35, Reinickendorf, CDU!Die kollektive Wahrnehmung ist auf Bilder geeicht, und wo nicht, wird der Text in bildhafter Sprache geboten, dass die Wahlschlacht dem Passanten wie urbanes Dada klingt. So kann noch das brennende Hochhaus in New York für den gewünschten Kandidaten werben.Es sind die kleinen Zeitungen und die kleinen Parteien, die sich die Stirne einschlagen. Zum Beispiel das Straßenmagazin Motz, das mit einer aussichtslosen Kampagne und fundierter Dokumentation dem tatsächlichen Analphabetismus der Stadt den Kampf ansagt. Nicht nur unter Obdachlosen.Zum Beispiel die Wählervereinigung Sozialistische Alternative, die sich der Bewusstseinsschulung verschrieben hat, und "die Arbeiterklasse zur historischen Aufgabe, der sozialistischen Revolution", führen will.Zum Beispiel die Marxistisch Leninistische Partei Deutschlands, deren Mitglieder zu 65 Prozent aus Arbeitern besteht. Eine Minderheitspartei auf Gewerkschaftsbasis. "Intellektuelle Mitglieder sehen im Kampfbündnis unter Führung der Arbeiterklasse ihre Zukunft." Hoffnungsvoll und aussichtslos.Und es sind die Biertrinkerpartei und die Anarcho-Pogo-Partei und die Nationalen und die Republikaner, die das gestörte Unterbewusstsein der Deutschen verkörpern. Von denen ein geistreicher Franzose gesagt hat: "In den seltensten Fällen wird sich ein Deutscher über sich selbst klar sein. Wird er sich einmal klar sein, so wird er es nicht sagen. Wird er es sagen, so wird er sich nicht verständlich machen."Was einem also bleibt, ist erschreckenderweise wieder der eigene Kopf. Dass Denken Spaß machen kann, ist ein historischer Irrtum. Was nun wirklich neu ist? - Wollen Sie das wirklich wissen?
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