Hausautoren

A–Z Die Freitag-Mitarbeiter waren fleißig. Was für Bücher sie dieses Jahr geschrieben und welche Platten sie aufgenommen haben, verrät unser Lexikon der Woche
Ausgabe 38/2014
Aus Göran Gnaudschuns Fotoband „Alexanderplatz“
Aus Göran Gnaudschuns Fotoband „Alexanderplatz“

Foto: Göran Gnaudschun aus dem besprochenen Band

A

Arbeitslos Mit der Einführung von Hartz IV begann 2005 eine Umstellung des deutschen Sozialsystems, deren Folgen erst nach und nach sichtbar wurden. Das Fordern-und-fördern-Prinzip führte dazu, dass Leistungsempfänger in oft unsinnigen Maßnahmen geparkt wurden, während viele andere in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gezwungen wurden und ein Heer von Aufstockern entstand, die nicht von ihrer Arbeit leben können. In ihrem Buch A wie Asozial versuchen Tobias Prüwer und Franziska Reif knapp zehn Jahre nach der Einführung eine Bestandsaufnahme. Sie sprechen mit Betroffenen und Fallmanagern in den Jobcentern, sie vergraben sich in Statistiken und das Sozialgesetzbuch.

Vor allem aber erzählen sie Geschichten von Menschen, die von einer absurden Bürokratie zerrieben werden. Und sie deuten Alternativen an. In einem Vorwort warnt Günter Wallraff: „Mitunter wird der Leser zornig.“ Was nicht das Schlechteste ist, was man über ein Buch sagen kann. Jan Pfaff

B

Bunker Der berühmte Architekt Le Corbusier kommt zufällig an einer Kirchenruine nahe dem französischen Ronchamp vorbei. Der Anblick inspiriert ihn selbst zu einer monumentalen Kirche aus Beton, ausgerechnet aus dem „Material des Krieges“, das zusammen mit den schmalen Fenstern Assoziationen zu Bunkerbauten aufkommen lässt. Prompt steht die Frage nach dem geistigen Ursprung des Bautyps Bunker im Raum – und wechselnde Protagonisten erzählen von dieser baugeschichtlichen Detektivgeschichte, an deren Anfang durch den Ersten Weltkrieg genährte Schutzsehnsüchte stehen. Doch Bunkerfantasien halten bis heute an und stellen unsere westliche Kulturgeschichte grundlegend in Frage: Nicht wissenschaftlicher Fortschritt zeichnet die Menschheit aus, sondern ein Hang zur Selbstzerstörung und der verzweifelte Versuch, uns vor uns selbst zu schützen. Vergebens. Es ist eine fatale Logik: Auf verbesserte Bunker folgen verbesserte Waffen. Christian Welzbacher gelingt mit Bunker eine geniale Psychohistorie der abgrundtiefen Dummheit der Welt. Florian Buchmayr

F

Fernsehturm Milan zum Beispiel ist in der Ostslowakei geboren, im Heim aufgewachsen. Jetzt hängt er sechs von sieben Tagen am Alex ab. Milan ist Punker, aber er trägt keinen Schmuck; Nieten etc. mag er nicht. Er hat auch nie Heroin genommen. Milan ist ein Außenseiter unter den Außenseitern. Ein Foto, das Göran Gnaudschun von ihm auf der hell erleuchteten Treppe zum Fernsehturm aufgenommen hat, wird er später mit den Worten kommentieren: „Ein sehr trauriges Bild.“ Flasche Cola links, Flasche Korn rechts. Das Foto ist im Buch abgedruckt, steht aber nicht neben dem Text. Man muss es suchen. Da ist es, ziemlich weit hinten. Vielleicht hat man diesen Milan schon mal gesehen, wenn man zu Galeria Kaufhof oder zu Saturn eilte. Vielleicht auch die anderen, Spider, Suicide Queen (eine Emo) oder Claudi. Aber nie hat man sie so intensiv wahrgenommen wie in diesem Band. Gnaudschun hat viel Zeit mit den Menschen verbracht, bis er ihnen so nahekommen konnte. Man sieht Trauer, Leere, aber auch Stolz und, wie hier: ein Glück. Mann und Frau im Springbrunnen. Fellini, Roma. Fast. Im Bildhintergrund der Wohnblock, in dem die alten DDR-Rentner dahinleben, rechts der Eingang zum Fernsehturm. Michael Angele

G

Globalisierung Das sind die künftigen Schulfächer: Umgang mit 3-D-Druckern, Urban Gardening, Lokalwährungen, Kranken- und Altenpflege. Was Werner Vontobel und Philipp Löpfe in dem Buch Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt darlegen, ist nichts weniger als das argumentative Fundament für ein neues, lokaleres und zugleich realistisches Wirtschaftssystem. Denn die Weltwirtschaft ist ein Auslaufmodell. Ihre Multikonzerne verschwenden Ressourcen in einem Ausmaß, das atemlos macht, sie erpressen die Hüter öffentlicher Haushalte und schicken die Bürger in einen selbstzerstörerischen Kampf um scheinbar knappe Arbeit. Die Weltwirtschaft desorganisiert unsere Gesellschaften und tut so genau das Gegenteil von dem, was eine Ökonomie leisten soll.

Die beiden Autoren führen dies nicht nur unter Verweis auf eine Fülle von belastbaren Studienergebnissen vor – sie verbinden Zahlen, Praxisbeispiele und theoretische Metaebene zu einer Argumentation, wie sie sich flüssiger nicht lesen lassen könnte. Dabei vergessen sie all das nicht, was heute schon in die Zukunft weist: Technologien, die Massenproduktion und globale Wertschöpfungsketten überflüssig machen. Die Revitalisierung lokaler Wirtschaftskreisläufe. Und die Arbeit, die es so oder so einfach zu tun gibt. Sebastian Puschner

Grammatik „Das Paradigma der ältesten überlieferten vollständigen Konjugationstabelle behandelt nicht zufällig das Verb týptō ‚ich schlage‘. (...) Geschlagen wird der Schüler, der schlagen nicht richtig konjugiert.“ Die Grammatik ist vermeintlich eine knochentrockene Angelegenheit; wie man sie zum Sprechen bringt, demonstriert Robert Stockhammer in seinem Buch glänzend. Mit einem Begriff der Psychoanalyse könnte man sagen, Stockammer arbeitet die reichhaltige, machtvolle Geschichte der Grammatik von der Antike bis zum Poststrukturalismus „durch“ und macht uns so ein Wissen bewusst, das so schön wie grausam ist. In obigem Beispiel befinden wir uns in einem Kapitel über die pädagogische Macht der Grammatik, von der Wittgenstein auch aus eigener Anschauung als Volksschullehrer einen (schrecklichen) Begriff hatte.

Grammatik ist autoritär. Soll man also auf sie verzichten? Nein, kann man auch gar nicht. Auch der Bruch einer Regel ist nun einmal der Bruch einer Regel. Colorless green ideas sleep furiously, Noam Chomskys berühmtes Beispiel für einen grammatikalisch korrekten, aber bedeutungslosen Satz, kann man zwar mit Oswald Wiener abwandeln in ein Furiously sleep ideas green colorless, eine Wortfolge, die freilich nur in poetischen Kontexten oder als Beispiel in einem Buch über Grammatik sinnvoll ist, eventuell noch auf dem Mars. Aber was heißt da „nur“? Wer dieses Buch liest, lernt nicht zuletzt den Blick der Poeten und Außerirdischen auf uns zu schätzen. MA

K

Kunst Wenn Texte von Georg Seeßlen hier in der Redaktion eintreffen, sind sie meist viel zu lang. Es ist eine echte Qual, diese Texte mitunter um mehr als die Hälfte kürzen zu müssen; der Platz, den eine Zeitungsseite bietet, ist nun einmal begrenzt. Seeßlens Texte enthalten keinen überflüssigen Satz, keinen allzu evidenten Gedankengang – egal ob es um die NSU oder Andrea Berg geht. Das Pamphlet, das Seeßlen jetzt gemeinsam mit Markus Metz über das Verhältnis von Kunst und Markt geschrieben hat, umfasst knapp 500 Seiten. Es ist nicht bekannt, wie viele Seiten die Lektoren kürzen mussten. Aber jeder kann sehen: Es enthält viele Sätze, die man in Gold rahmen müsste. Die beiden Autoren gehen von einer heftigen Entfremdung zwischen Kunst und Gesellschaft aus. „Das Geld, so scheint’s, spielt in der Kunst auf wahrhaftige Weise verrückt, und der Diskurs folgt ihm.“ In fünf Kapiteln gehen sie den Ursachen und Konsequenzen dieser Kapitalisierung nach. Und sie fragen, was die Kunst angesichts ihrer Vereinnahmung heute überhaupt noch für kritische Potenziale entfalten kann. Dabei ist ihr überaus lesenswertes Buch keine wortgewaltige Klageschrift, es endet vielmehr mit einem 42-Punkte-Manifest, dem Aufruf zur Dissidenz und mit einem Versprechen: „Wer die Kunst frei und vernünftig ansieht, den sieht sie auch frei und vernünftig an.“ Christine Käppeler

L

Lebkuchensauce Schon wahr, vegan ist im Trend, und es gibt eine ganze Menge veganer Kochbücher. Aber in wie vielen von denen steht schon ein Rezept für einen „betrunkenen Welpen, der in eine Maracuja gestolpert ist“? Eben. Sophias vegane Welt will Spaß machen, statt mit dem Finger zu zeigen, und ist allein deswegen nicht nur für Veganer gut, sondern auch etwas für Gelegenheitsköche, die einfach nur mal tierfrei kochen wollen. Statt mit der Waage wird mit Omas alter Porzellantasse gemessen, und die Cupcakes schmecken nach Roter Beete und dürfen am ersten Mai serviert werden. Für ihre Kochleidenschaft hat Sophia Hoffmann die DJ-Kunst aufgegeben und ihre Turntables durch Herdplatten ersetzt. Klar, dass es da mit der „russischen Suffgrundlage“ auch einen heißen Tipp fürs Nachtleben gibt. Und das alles garniert mit kleinen Geschichten, die man auch gerne liest, wenn man gerade nicht in der Küche steht. Wer sich nur schwer vom Fleisch lösen kann, kann ja mit einem „ganz falschen Hasen mit Lebkuchensauce“ anfangen. Simon Schaffhöfer

W

Wehe, wenn An tranigen Sonntagen, schrieb der Berliner Publizist und Musiker Jens Friebe neulich in dieser Zeitung, empfehle es sich, wieder einmal die Bankraubklamotte Wehe, wenn Schwarzenbeck kommt von 1979 zu schauen. Jens Friebes neue Platte Nackte Angst Zieh Dich An Wir Gehen Aus ist nichts für die Couch, sondern wie gemacht für die späten Abendstunden an Werktagen in der besten Bar der Stadt, in der niemals nur einzelne Songs, sondern immer ganze Platten aufgelegt werden. Wenn man dort bequatscht hat, was bequatscht werden musste, bis man sich unweigerlich ein wenig leergelabert fühlt, ist die Stunde von Jens Friebes sechstem Album gekommen, das viel zu analytisch („Sei einfach nicht du selbst“), apokalyptisch („Warum zählen die rückwärts Mammi“), jenseitig („Der Tod wird nicht sein wie ein 1-Euro-Job, den man für immer behält“) und tieftraurig („Zahlen zusammen gehen getrennt“) ist, als dass man irgendjemandem guten Gewissens empfehlen könnte, es sich mit ihm zu Hause gemütlich zu machen. CK

Z

Zufrieden Die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Oft ist das eine Phrase, doch Stephan Hebel meint es ernst. Wie lässt sich Politik verändern, wenn die meisten Bürger mit Angela Merkel ganz zufrieden sind? Seine Antwort: Man muss sie überzeugen, aber nicht mit (links-)radikaler Rhetorik, das gehe an den Menschen vorbei. Sondern mit differenzierter Kritik und konstruktiven Vorschlägen. Klingt nach einer Binse, aber wie man die Leser abholen kann, demonstriert Hebel dadurch, dass er Gegenargumente vorwegnimmt. „Ich widerspreche nicht denen, die sagen, dass wir, verglichen mit dem Rest der Welt, einen ziemlich hohen Wohlstand genießen. Ich widerspreche aber denen, die behaupten, das würde so bleiben, wenn wir weitermachen wie bisher.“ Felix Werdermann

A wie Asozial. So demontiert Hartz IV den Sozialstaat Tobias Prüwer, Franziska Reif Tectum 2014, 220 S., 17,95 €

Bunker Christian Welzbacher Matthes und Seitz 2013, 188 S., 22,90 €

Alexanderplatz Göran Gnaudschun Fotohofedition 2014, 216 S., 39,00 €

Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt Werner Vontobel, Philipp Löpfe Orell Füssli 2014, 224 S., 19,95 €

Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution Robert Stockhammer Suhrkamp 2014, 548 S., 22 €

Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld. Ein Pamphlet Markus Metz, Georg Seeßlen Suhrkamp 2014, 496 S., 20 €

Sophias vegane Welt Sophia Hoffmann Edel Germany 2014, 144 S., 14,95 €

Nackte Angst Zieh Dich An Wir Gehen Aus Jens Friebe Staatsakt / RTD 2014

Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen Stephan Hebel Westend 2014, 240 S., 16,99 €

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