A
Amok Götz Eisenberg arbeitet als Gefängnispsychologe an der JVA Butzbach. Als Autor ist er dadurch nur unzureichend beschrieben (wie Leser wissen, die sich an seine fast literarischen Berichte aus dem Dunklen erinnern, in denen er Butzbacher Insassen porträtierte): Eisenberg, Jahrgang 1951, kommt aus einer Zeit, in der der Himmel die Grenze des Denkens war. Sein an der Kritischen Theorie geschulter Blick nimmt die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite in den Blick. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus heißt sein neues Buch, Zwischen Amok und Alzheimer im Untertitel, und addiert nicht Großthesen zu Kulturkritik, sondern sucht seinen Gegenstand immer wieder in feuilletonistischen Beobachtungen des Alltäglichen. Ethnologie des Inlands heißen diese Rubriken, in denen man auf so verschiedene Phänomene wie „Lärm“, „Harlem-Shake“, „Flaschensammler“ oder auch eine rätselhafte „Standing Woman“ stößt. Matthias Dell
Zwischen Amok und Alzheimer Götz Eisenberg
Brandes & Apsel 2015, 292 S., 24,90 €
B
Bilanz Zum ersten Mal begegnet sind sich Friedrich Schorlemmer und Gregor Gysi am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Dort hielten beide eine Rede. Gysi, der Anwalt und SED-Mitglied, Schorlemmer, der Pfarrer und Oppositionelle. Sie standen auf verschiedenen Seiten und der Weg, den sie im wiedervereinten Deutschland nahmen, ist sehr unterschiedlich geblieben. In Was bleiben wird ziehen Gysi und Schorlemmer eine Bilanz der vergangenen 25 Jahre. Zwei Tage lang hat der Journalist Hans-Dieter Schütt mit beiden gesprochen, gestritten und zugehört und daraus ein Buch gemacht. Es ist ein politisches Gespräch, in dem sich die beiden nichts schenken, etwa wenn Schorlemmer Gysi fragt, warum er in der DDR nie öffentlich Kritik geäußert habe. Und es ist ein sehr persönliches Gespräch, etwa wenn beide über ihre Väter reden, ihre ersten Erfahrungen in der Politik oder ihren Frust mit dem neuen System. Es gibt einiges zu entdecken. Philip Grassmann
Was bleiben wird Friedrich Schorlemmer,
Gregor Gysi Aufbau 2015, 294 S., € 19,95
Borat Kasachstan ist ein seltsames Land, man hat es in Borat gesehen. Dass die Pressefreiheit kein hohes Gut ist, weiß man als Journalist auch noch. Und dass es einen, vorsichtig gesagt, merkwürdigen Präsidenten hat. Aber dass dieser Nasarbajew erwägt, sein Land umzubenennen, weil der Name zu sehr an arme Länder wie Pakistan erinnert, das habe ich bei Marion von Zieglauer gelesen. Aber Obacht! Ihr kleines Buch ist keines von der Sorte „verrückte Reise“, wie sie in Mode sind. Die Südtirolerin hat zwar einen großen Sinn für Skurrilitäten, aber sie sucht dahinter nach dem Menschlichen. Und wenn ihr auf die Nerven geht, dass die Kasachen tatsächlich immer gleich Felicità singen, wenn sie sagt, wo sie herkommt, dann hält Marion von Zieglauer eben mit dem russischen Lied vom kleinen Krokodil dagegen. Ihr unerschütterlicher Humanismus erstreckt sich sogar auf den Prenzlauer Berg, wo ihre Reise den Ursprung nahm und wo sie nun auch als Lesebühneautorin bekannt ist. Michael Angele
Kas Vegas Marion von Zieglauer
Engstler 2015, 44 S., 10 €
D
Dating Klar, das Internet hat alles verändert: Konsumgewohnheiten, Kommunikationsrituale, selbst Kindheitsträume. Warum sollte es da vor der Liebe haltmachen? Wer, wie ich – attraktiv, Anfang 30, glücklich verheiratet mit Kind – das facettenreiche Angebot der Datingseiten, Kontaktbörsen und interaktiven Sexofferten bis jetzt nicht wahrgenommen hat, wird bei der Lektüre von Georg Seeßlens Digitales Dating. Liebe und Sex in Zeiten des Internets das Gefühl nicht los, hier Gott sei Dank etwas zu verpassen. „Wer mit emotionalem, sozialem oder sexuellem Begehren in das Netz geht, um die Risiken von Ablehnung, Missverständnis oder Kränkungen zu minimieren, handelt sich neue Gefahren ein“, schreibt Seeßlen. Neugierig macht er aber auch. Wussten Sie, dass bezahlte Avatare die Flirtkommunikation für Vielbeschäftigte übernehmen? Nach 85 Seiten Analyse und Einblick in die digitale Liebeswelt ist ein sicher: Das ist nichts für hoffnungslose Optimisten. Madeleine Richter
Digitales Dating Georg Seeßlen
Bertz + Fischer 2015, 92 S., 29 Abb., 6,90 €
E
Emanzipation Ja, die Geschlechterrollen sind im Wandel. Wie eine Frau zu sein hat, wie ein Mann sich verhalten soll – das ist heute nicht mehr so festgelegt wie noch vor 30 Jahren. Trotzdem prägen Rollenmuster unser Verhalten. In ihrem Buch Bitte freimachen. Eine Anleitung zur Emanzipation beschreibt Katrin Rönicke, wie sie sich dieses Einflusses bewusst wurde. „Die Fesseln zu lösen, den Blickwinkel zu verrücken hat oft lange Zeit gedauert und nicht selten wehgetan.“ Im Freitag schreibt Rönicke meinungsstarke Texte zu Genderfragen, hier nun wechselt sie gekonnt zwischen privater und politisch-gesellschaftlicher Ebene hin und her. Ein kurzweiliges Buch – und ein überzeugendes Plädoyer für Vielfalt. Jan Pfaff
Bitte freimachen. Eine Anleitung zur Emanzipation
Katrin Rönicke Metrolit 2015, 224 S., 22 €
K
Kollaboration Mark Terkessidis prägte den Begriff Parapolis für urbane Orte, die von Diversität, Mobilität und Wandel geprägt sind. Wie kann hier Zusammenarbeit aussehen? Terkessidis definiert es so: Die Beteiligten verfolgen ein gemeinsames Ziel, sie verändern sich im Prozess des Miteinanderarbeitens und begrüßen diesen Wandel. Für Personen mit unterschiedlichen Interessenlagen sieht er so eine Chance, mehr Gestaltungsmacht in Politik und Gesellschaft zu erreichen. Kollaboration ist aber kein Ratgeber, der Tipps für die Ausgestaltung von Beteiligungsverfahren gibt, sondern eine philosophisch-praktische Abhandlung, die einen Rahmen für Kollaborationen in Kulturinstitutionen, Behörden oder sozialen Einrichtungen entwirft. Gülten Akkoc
Kollaboration Mark Terkessidis
Suhrkamp 2015, 332 S., 18 €
O
Oligarchen Am 4. Mai 2014 erscheint auf der Webseite der rechtsextremen Organisation Prawyj Sektor eine Art Siegesmeldung. Die Rede ist von einem „hellen Ereignis in unserer vaterländischen Geschichte“. Odessa sei von „Putin-Söldnern und Degenerierten“ gereinigt. Gemeint ist der Massenmord im brennenden Gewerkschaftshaus zwei Tage zuvor, bei dem nach offiziellen Angaben 40, tatsächlich wohl mehr als 100 Menschen, zumeist Regierungsgegner, starben – verbrannt, erstickt, erschossen. Für Ulrich Heyden, Russland-Autor des Freitag, ist der 2. Mai 2014 ein Schicksalstag auf dem Weg zum Bürgerkrieg. In seinem soeben erschienenen Buch Ein Krieg der Oligarchen rekonstruiert er das Geschehen und beschreibt mehrwöchige Recherchen in der Hafenstadt. Sein Fazit: Das Massaker war die konzertierte Aktion von Ultranationalisten, städtischer Administration und Polizei. Dass Oligarchen die Konfrontation schüren, wird in diesem Report nicht nur am Rande analysiert. Lutz Herden
Ein Krieg der Oligarchen Ulrich Heyden
PapyRossa 2015, 173 S., 12,90€
S
Schlusskonferenz Schon auf der ersten Klimakonferenz vor 20 Jahren war Nick Reimer dabei. Das Kyoto-Protokoll kam, das Kopenhagen-Desaster, in diesem Jahr womöglich der Paris-Vertrag. Kein deutscher Journalist kennt sich in der Klimadiplomatie so aus wie Reimer. Als in Kopenhagen 2009 um ein Abkommen gerungen wurde, waren im Presseraum die Arbeitsplätze in seiner Nähe heiß begehrt. Er bekam viele Infos als erster. Nun hat er die Geschichte der UN-Klimaverhandlungen in einem Buch zusammengefasst. Es zeigt, was sich in den Jahren geändert hat, welche Streitpunkte es heute gibt, was uns im Dezember in Paris erwartet und wie es danach weitergeht. Auf den Konferenzen wird über unzählige Details geredet, will man das wirklich wissen? Ja, es ist interessant, wenn Reimer an den Verhandlungstexten zeigt, wie um jedes Wort gestritten wird, wie ambitionierte Vorhaben immer weiter abgeschwächt werden. Aber natürlich dürfen auch die Anekdoten und Reportage-Elemente nicht fehlen. Das Buch verdeutlicht: Auf den Konferenzen geht es vielen Diplomaten nicht in erster Linie um die Weltrettung, sondern vor allem um nationale Interessen. Felix Werdermann
Schlusskonferenz. Geschichte und
Zukunft der Klimadiplomatie
Nick Reimer Oekom 2015, 208 S., 14,95 €
T
Talente Sarah Alberti und Marc Beckmann haben im Freitag bisher nicht gemeinsame Sache gemacht: Alberti ist Kunstkritikerin in Leipzig, sie schreibt für uns von dort oder auch mal von der Biennale in Venedig. Beckmanns Fotos findet man eher im Politikteil, ihn selbst mit seiner Kamera am Rande der Freitag-Salons im Maxim-Gorki-Theater. Die Reihe Talents der c/o Galerie führt beide nun zusammen. Marc Beckmann reist für seine Serie Anniversaries seit Jahren in alle Welt. Er fotografiert bei Gedenktagen, was am Rande der Paraden und Kranzniederlegungen geschieht. Organisierte Wiederkehr der Vergangenheit ist Sarah Albertis Essay dazu treffend betitelt. Großformatig sind die Fotografien noch bis 16. August im c/o im Amerikahaus in Berlin zu sehen. Christine Käppeler
Anniversaries. Talents 33 Marc Beckmann,
Sarah Alberti Kehrer 2015, 80 S., 24,90 €
U
Utopie 2009, kurz nach Ausbruch der Finanzkrise, ein Buch über post-kapitalistische Utopien zu schreiben, das leuchtet ein. Es 2015 neu aufzulegen, das mag zunächst verwundern. Doch Raul Zelik und Elmar Altvater wären nicht zwei der klügsten polit-ökonomischen Analysten im deutschsprachigen Heute, würden sie den Mantel des Schweigens über das Fortschreiten des Neoliberalismus seit 2009 hüllen. Die Transformation und ihre Subjekte ist das dem Buch nun angefügte Kapitel betitelt: Kollektivität, so scheint es, ist in dieser Individualitäts- und Konsumwelt unmöglich. Und doch gibt es Syriza, gibt es Podemos, die eine Re-Politisierung bewirkt haben, die man bis vor kurzem noch für unmöglich gehalten hätte. Sebastian Puschner
Vermessung der Utopie Elmar Altvater,
Raul Zelik Bertz + Fischer 2015, 240 S., 9,90 €
Z
Zeitschrift Wird über sogenannte Qualitätsmedien gesprochen, fallen sie oft unter den Tisch: die vielen kleineren Kulturmagazine, die immer wieder hochkarätige Beiträge bergen. Eine wahre Perle unter ihnen ist das Wespennest. Die von Andrea Zederbauer und Freitag-Autorin Andrea Roedig herausgegebene Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder, die sich stets einem Leitthema widmet, versammelt halbjährlich eine wunderbare Melange aus Lyrik, Essays, Reportagen und breitformatigen Fotos. Und auch an überaus profilierten Autoren fehlt es nicht. In der aktuellen Ausgabe zum Thema Ramsch finden sich etwa Texte von Georg Seeßlen, David Wagner, dem Ethnologen David Miller oder dem Philosophen Peter Strasser. Nils Markwardt
Wespennest 168: Ramsch Andrea Roedig,
Andrea Zederbauer (Hrsg.) 112 S., 12,00 €
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