A
Abenteuer War Otto Feige sein wirklicher Name? Fraglich. Berühmt wurde der mysteriöse B. Traven als Schriftsteller, mit weltweit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern. Preisgekrönt verfilmt mit Humphrey Bogart wurde Der Schatz der Sierra Madre. Vergessen wurde der Revolutionär, der B. Traven auch war, sein Pseudonym: Ret Marut (➝ Zusammenbruch).
Der Sammelband Der Feuerstuhl. Werk und Wirken des Schriftstellers B. Traven von den Herausgebern Karsten Krampitz und Simone Barrientos (Alibri) ist eine Verbeugung vor B. Traven, eine Hommage an sein Werk. „Mich hat schon immer die Verwandlung fasziniert“, sagt Krampitz. Vom Revoluzzer während der Bayerischen Räterepublik, der aus dem Fenster sprang, dem Standgericht entkam, Schriftsteller wurde, in Mexiko starb. Traven stehe nicht nur für gute Unterhaltung, sondern auch für Haltung. „Traven war auf jeden Fall Ret Marut. Gut möglich, dass er Otto Feige nur gekannt hat.“ Katharina Schmitz
B
Bye-bye In Bausch und Bogen verdammen möchte Stephan Hebel die ehemalige CDU-Vorsitzende und Noch-Kanzlerin Angela Merkel nicht. „Es war nicht alles schlecht.“ Doch für Hebel ist Merkel „weder Heldin noch Schurkin. Sie war und ist eine Politikerin, die es in 13 Jahren Kanzlerschaft auf entscheidenden Politikfeldern versäumt hat, den Zusammenhalt der Gesellschaft entschieden zu stärken“.Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft (Westend) hebt sich wohltuend ab von den Hagiografien, die nach Bekanntgabe des Rückzugs der Kanzlerin vom Parteivorsitz allerorts erschienen sind.
Sein Buch rekapituliert die Kanzlerschaft auf 12 Politikfeldern, von Arbeit bis Wohnen. Hebel bietet dem Leser so die Chance, sich ein differenziertes Bild von einer Kanzlerin zu machen, die nie das Ideal einer „marktkonformen Demokratie“ aus dem Blick verlor. Mladen Gladić
G
Gegensatz Eines der unschönsten deutschen Sprichwörter lautet: „Wer A sagt, muss auch B sagen.“ Leser dieser Zeitung würden sicher zustimmen, dass dieses Update charmanter wäre: „Wer Augstein sagt, muss auch Blome sagen.“ Es könnte dafür stehen, dass es sich lohnt, bei allzu klaren Antworten skeptisch eine Gegenposition einzuholen (➝ Kritik). Das zeigt das neue Buch der beiden Journalisten. Augstein, der „Steinzeitkommunist“, und Blome, der „freundliche Neoliberale von nebenan“, wie sie sich liebevoll schimpfen, wollen in Oben und unten (DVA) klären, „was Deutschland spaltet“, naturgemäß uneinig. Für Augstein ist ungleich verteilter Reichtum ein Skandal. Blome hingegen meint: „Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Oben und Unten.“
Eigentlich könnte das Buch an dieser Stelle zu Ende sein. Augstein und Blome sprachen aber für ihr Buch nicht nur mit sich selbst, sondern mit Menschen wie Andreas Schönherr, dem Chef der Dresdner Tafel. Besonders diese Triloge sind ein Gewinn, nicht nur für den Leser. Ganz offenkundig lohnt es sich auch für zwei professionelle Schlaumeier, skeptisch zu bleiben. Konstantin Nowotny
K
Kritik Von einer Klimakatastrophe schreibt Robert Misik – und meint die Erhitzung der kleinen Welt Österreich. Seit gut anderthalb Jahren regiert dort eine Koalition aus ÖVP und FPÖ unter Sebastian Kurz. Der Titel Herrschaft der Niedertracht – Warum wir so nicht regiert werden wollen! (Picus Verlag) ist da so programmatisch wie wortgewaltig, einer Streitschrift angemessen. Misik kritisiert und seziert die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dazu geführt haben, dass Arme verachtet und Reiche hofiert, Ängste vor dem „Fremden“ geschürt werden und der Autoritarismus blüht. Dieser Blick ist über Österreichs Grenzen hinaus wichtig, wie auch Misiks Rat: „Gebt nicht klein bei.“ Benjamin Knödler
O
Ohrwurm Manchmal liegt man nachts wach und fragt sich: „Wer gewinnt beim nächsten Klassentreffen?“ Gut, dass es das neue Buch von Linus Volkmann Sprengt die Charts! Wie werde ich Popstar (und warum)? (Ventil Verlag) gibt, in dem solche Fragen bündig beantwortet werden. Um es ungeniert zu spoilern: Es läuft auf den Tipp hinaus, nicht Musikjournalist, sondern lieber Popstar zu werden. „Die Lektüre dieses Buches erspart Umschulung oder Untertauchen“! (➝ Abenteuer) Was sich damit noch gewinnen lässt: jede Menge Schlaglichter auf das bizarre Gebaren des heutigen Kulturbetriebs, erfasst mit geschliffenem Sprachwitz. Barbara Schweizerhof
R
Rechtsruck Die AfD ist nicht vom Himmel gefallen, Sebastian Friedrich räumt mit Mythen wie der vom plötzlichen Rechtsruck auf. In Die AfD: Analysen – Hintergründe – Kontroversen (Bertz und Fischer) zeichnet er den Aufstieg der Partei nach und verortet ihn vor dem Hintergrund eines Krisenkonglomerats: die Krise des Konservatismus, die Repräsentationskrise, die Krise des neoliberalen Kapitalismus. Die Flügelkämpfe und die stetig voranschreitende Radikalisierung der AfD kommen nicht zu kurz, aber Friedrich weitet den Blick auf ein rechtes Großprojekt, bei dem auch Stiftungen, Medien und Blogs mitmischen. Als linke Gegenstrategie plädiert er offensiv für eine „Neue Klassenpolitik“. Dass Friedrich damit einen Nerv trifft, zeigen nicht nur begeisterte Rezensionen, sondern auch die Hetzkampagne, die der Deutschland-Kurier gegen ihn losgetreten hat. Martina Mescher
S
Sinn und Sinnlichkeit Schade nur, dass nicht alle in Schluss mit dem Sex (Klever Verlag) versammelten Texte im Freitag erschienen sind. Aber einige sind es doch, zum Beispiel Der Körper als Schnittwunde, der sich mit dem Fall Gina-Lisa Lohfink beschäftigt. Er enthält alles, was ich an Andrea Roedigs Schreiben über „sexual politics“ schätze: Als lesbische Feministin kommt sie ohne Verkrampfungen und Moralisierungen aus, sie muss aber auch nicht berechtigte Anliegen gegen etwas Applaus verkaufen. Das zeigt sich auch an ihren Überlegungen zur MeToo-Debatte oder an dem wunderbar melancholischen Text über das Aussterben der betont männlichen Lesbe, der „Butch“, die heute, die Medizin macht es möglich, auch biologisch zu einem mehr oder weniger „echten Kerl“ wird. Der schönste Satz im Buch: „Man kann von Müttern nicht erwarten, dass sie keine Raben sind.“ Gemünzt ist er auch auf die eigene, offenbar an Romy Schneider erinnernde Mutter. Ein Buch über sie würde ich ebenfalls sofort lesen. Michael Angele
T
Tanach Wie pirscht man sich vom Arsch der Welt an ihren Nabel heran? Oder anders gefragt: Wie gelangt man in das gelobte Land? Anna Opel erzählt in ihrem Debütroman Ruth. Moabit (edition.fotoTAPETA) vor der Folie einer alttestamentarischen Geschichte von zwei Frauen, die das Schicksal in Berlin zusammenführt: Rahua ist aus Eritrea geflohen, wo ihr der Dienst an der Waffe drohte; Noemi hat ein Zimmer frei, seit Tochter Jule ausgezogen ist. Rahua ist eine selbstbewusste junge Frau, die Mühe damit hat, auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen zu sein. Noemi rutscht der Boden unter den Füßen weg, als zuerst ihre Mutter stirbt und sich dann auch noch ein Unglück ereignet. Anna Opel gelingt es, beider Sicht unsentimental zu schildern: Ruth. Moabit ist keine dieser Storys von zwei ungleichen Frauen, die ziemlich beste Freundinnen werden – es geht schlichtweg um Loyalitäten. Und darum, dem Drang nach einem anderen Leben nachzugehen. Christine Käppeler
Tricolore Très chic finden die Pariser Freunde die Mauerfallpartys, die sie in ihrer kleinen Wohnung veranstaltet. Als die Autorin, ein Kind aus Ostberlin, mal bei einem Presseempfang im Élysée stand, da musste sie sich Witze über Marzahn anhören, das Plattenbauviertel, in dem sie aufwuchs: Wie schafft man es von da nach Paris? Die Journalistin Romy Straßenburg erzählt in Adieu Liberté. Wie mein Frankreich verschwand (Ullstein) von ihrem algerischen Käsehändler und Julie, die Männer in den Wahnsinn treibt. Davon, wie sie das Attentat im Bataclan erlebt hat und Teil des Satiremagazins Charlie Hebdo wurde. In lakonischem Ton wandelt sie zwischen der Existenz einer „Bobo“-Pariserin (Yoga, Smoothies) und der der Journalistin, die ehemalige IS-Geiseln interviewt. Maxi Leinkauf
U
Ullmann, Wolfgang Warum gehen Menschen in die Politik? Was lässt sie für ihre Gesinnung ihr Leben riskieren wie die Kommunistin Franziska Kessel oder eine komplette Kehrtwende machen wie Heiner Geißler? Oder dem Bundestag den Rücken kehren, in die Europapolitik gehen und als Herausgeber des „Freitag“ der Bundesregierung mangelndes Engagement im Osten vorwerfen, wie es der Theologe und DDR-Kritiker Wolfgang Ullmann (s. Abb.) tat? (➝ Kritik) Solchen Fragen spürt Comiczeichner Simon Schwartz in seinem Band Das Parlament – 45 Leben für die Demokratie (Avant-Verlag) mit Kurzbiografien deutscher Politiker und Politikerinnen von 1948 bis zur Wiedervereinigung 1990 nach. Ein Leben, eine Seite – erstaunlich gut gelingt es ihm trotz der Kürze, mit den Mitteln des Comics eine individuell zum jeweiligen Text passende Bildsprache zu finden.
Von 2012 bis 2016 zeichnete Schwartz für den Freitag die Comicreihe Vita Obscura über unbekannte Exzentriker. Sie war Vorbild für diese Politiker-Porträts im Auftrag des Bundestags. Carola Torti
Underground Das Sexuelle ist in Peter Rehbergs 424 Seiten starkem Band Hipster Porn (b_books) hochpolitisch. Am Beispiel des schwulen Fanzines Butt schaut er auf die Umwälzungen der nuller Jahre, als Gender, Sex und Begehren neu gedacht wurden. Butt erschien von 2001 bis 2011 als Magazin, das zuerst in Amsterdam, dann in New York gemacht wurde. Sein Trademark waren roséfarbenes Papier und Schwarz-Weiß-Fotos überwiegend nackter Männer, die nicht dem herkömmlichen Porno-Ideal entsprachen, eher dem jugendlicher und nicht mehr ganz so jugendlicher Clubgänger. Eingangs fragt Rehberg, was es heißt, als Schwuler in einer homophoben Gesellschaft zu schreiben. Für ihn selbst, sagt er, sich nie auf eine Form des Schreibens zu beschränken. So verschränken sich auch in Hipster Porn akademische Analyse und „Insider-Ethnographie“, wie er es nennt, zu einer luziden Zeitdiagnose. Christine Käppeler
Z
Zusammenbruch Der ganz normale Betriebsunfall. Viermal Marx zur globalen Finanzkrise (Dietz Berlin) beginnt mit Stephan Kaufmanns hilfreicher Darstellung der Weltmarktkrise 2008 ff. Kaufmann ist Autor des Freitag, wie auch die Herausgeberin des Bands, Sabine Nuss.
Ernst Lohoff analysiert darin die „bad banks“, in denen nicht rückzahlbare Kredite lagern, deren Laufzeit nachträglich verlängert wurde, mithilfe des Marx’schen Begriffs „fiktives Kapital“. Mit den „bad banks“ wird kontrafaktisch unterstellt, die Frage fiktiv oder wirklich bleibe permanent offen. Das geht sicher nicht gut. Nur vermengt Lohoff, was Marx unterscheidet: Solange die Möglichkeit der Rückzahlung unentschieden ist, hat der Kreditnehmer kein „Kapital an sich“, sondern nur für sich, für ihn, in Händen; ob es aber fiktiv ist oder wirklich, weiß man eben noch nicht. Michael Jäger
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