A–Z Dass unsere Autoren nicht nur für uns gern und lesenswert in die Tasten greifen, bewiesen sie in den letzten Monaten wieder mit einem Schwung neuer, toller Bücher
Foto: Alan Grant/The Life Picture Collection/Getty Images
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Analyse Man kennt Georg Fülberth als unprätentiösen Schreiber und Anhänger eines Purismus des unverstellten, weil marxistischen Blicks. In seinem jüngsten Buch Unter der Lupe (PapyRossa, 14,90 €)werden Texte gebündelt, die er seit 2008 für die Zeitschrift Lunapark21 schrieb. Nachzulesen sind keine Reminiszenzen, sondern Beiträge, die zeitlos wirken, weil die Aktualität ihrer Argumentation über jeden Zweifel erhaben ist.
Ob Fülberth zur Weltfinanzkrise, zur Geiselnahme des Staates durch „systemrelevante“ Banken, zur anfallartigen Hinwendung von Bundesregierungen zu (keynesianischer) Krisenintervention und Konjunkturhilfe oder zum „Kommando Altmaier“ auf einem mieterfeindlichen Immobilienmarkt (➝ Wohn
t Georg Fülberth als unprätentiösen Schreiber und Anhänger eines Purismus des unverstellten, weil marxistischen Blicks. In seinem jüngsten Buch Unter der Lupe (PapyRossa, 14,90 €)werden Texte gebündelt, die er seit 2008 für die Zeitschrift Lunapark21 schrieb. Nachzulesen sind keine Reminiszenzen, sondern Beiträge, die zeitlos wirken, weil die Aktualität ihrer Argumentation über jeden Zweifel erhaben ist.Ob Fülberth zur Weltfinanzkrise, zur Geiselnahme des Staates durch „systemrelevante“ Banken, zur anfallartigen Hinwendung von Bundesregierungen zu (keynesianischer) Krisenintervention und Konjunkturhilfe oder zum XX-replace-me-XXX8222;Kommando Altmaier“ auf einem mieterfeindlichen Immobilienmarkt (➝ Wohnen) schreibt – seine Situationsanalysen taugen stets zur Gesellschaftskunde. Der Autor lässt sich die Frage nach den tatsächlichen, oft verborgenen, zumeist ökonomischen Interessen der von ihm behandelten Akteure weder verbieten noch aufdrängen, wenn sie sich erübrigt. Es hinterlässt emotionale Wirkung, wie realitätsbezogen Fülberth analysiert. Lutz HerdenBBefreiung Zwei Jahre nach #MeToo schrieb unsere Krimi-Kolumnistin und Literaturkritikerin Ute Cohen im Freitag dieses Credo: „Neoromantik und einen pragmatischen Idealismus rufe ich aus! Die Selbstbefreiung der Frau erblüht nicht in einem Hirngespinst, sondern erfordert harte Arbeit, Kommunikation vor allem. Die zwanzig Prozent der Unbelehrbaren werden wir verführen zum Gespräch, zum Austausch, zur Konfrontation und Versöhnung.“In einem Interview mit der Berliner Zeitung berichtet Cohen über Erfahrungen sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit. Der Täter: der Vater einer Freundin. Autobiografische Züge trägt ihr Romandebüt Satans Spielfeld, dessen Hörbuchfassung 2019 erschien (Audio Pool, 19,90 €). Ihr zweiter Roman erscheint im Februar. Poor Dogs sei „ein eleganter, überraschend sinnlicher Psychothriller aus der Welt der Unternehmensberatung“ – sicher ist, es gibt Befreiungsschläge (➝ Freiheit) und vermutlich auch ordentlich Karacho. Katharina Schmitz EEinfache Leute Der österreichische Journalist und Schriftsteller Robert Misik ist mit der seltenen Gabe ausgestattet, ganz ohne Schnörkel, aber dafür sehr viel klüger als die meisten zu schreiben. In dem just bei Suhrkamp erschienen Essay Die falschen Freunde der einfachen Leute (14 €) führt er durch die letzten 200 Jahre Literatur zur Arbeiterklasse, immer genau richtig an der Gegenwart entlang.Gibt es die arbeitende Klasse noch? Und wieso wäre es für diesen heterogenen Haufen besser, sich doch noch einmal zusammenzuraufen? Misik räumt mit Klischees auf und macht Widersprüche stark. Wieso etwa ist klassische Männlichkeit für den „kleinen Mann“ immer noch ein Wert an sich, aber Gendergerechtigkeit in der Haushaltsführung bei Familien der arbeitenden Klassen viel höher als in Mittel- und Oberschicht? Hier finden sich Antworten. Timo FeldhausFFreiheit Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit an sich schon vorbei ist. Die Idee nämlich hat in den Jahrzehnten seit ihrem Notwendigwerden wuchtige Strukturen ausgeformt: Partei, Bewegung, Religion. Indem das wächst, wird die ursprüngliche Idee allmählich zum Dogma. Niemand spricht mehr aus: dass es weniger die Idee als das Denken selbst ist, das am Leben bleiben müsste.Eduard Bernstein (1850 – 1932) war ein großer Theoretiker der frühen Sozialdemokratie. Als einer der Ersten erkannte er, dass der Kapitalismus sich verändert hatte seit Marx. Dass auch die Erfolge der Arbeiterbewegung die soziale Ausgangslage entscheidend verändert hatten. Dass es also, statt Banner zu tragen und Parolen auszugeben, hieß: neu zu denken. Er bekam seine Strafe. Von rechts instrumentalisierte man ihn, von links schimpfte man ihn „Revisionist“. Ihn fehlzudeuten und totzuschweigen, war lange allseits gepflegter Konsens. Tom Strohschneider erinnert jetzt mit Eduard Bernstein an ihn, mit einem großen Essay und Originaltexten (Dietz, 12 €). Eine gute Idee. Klaus UngererMMobilität Von der Krise der Deutschen Bahn kriegt der gemeine Zugfahrer oft nur eine Floskel mit. Sie wird gutmütig gesäuselt oder tickert sanft über die Informationstafeln: „Störungen im Betriebsablauf“. Welch jahrelanges, gigantisches Versagen hinter dieser Floskel stecken kann, haben der Autor und Politikberater Bernhard Knierim sowie der ehemalige Politiker und Verkehrsexperte Winfried Wolf in Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen (PapyRossa, 17,90 €) zusammengetragen. Knierim befürwortete im Freitag (14/2019) zuletzt die Senkung der Mehrwertsteuer auf Zugtickets.Das Ausmaß, in dem die Privatisierung der Bahn, 1994 euphemistisch als „Bahnreform“ verkauft, fehlgeschlagen ist, lässt sich kaum ertragen – gerade wenn man sich die Verheerungen unter dem Aspekt des Klimaschutzes anschaut. Die Autoren geben sich nicht mit der Dokumentation des Scheiterns zufrieden. Sie liefern Lösungen. Dass drei Bahnchefs aus dem Daimler-Umfeld rekrutiert wurden, die der Schiene wenig Liebe entgegenbringen, betrachten sie als eins von etlichen Problemen, die nur politisch gelöst werden können. Argumentative Unterstützung holen sie sich von prominenten Gastautoren wie Bahngewerkschafter Claus Weselsky. Konstantin NowotnyTTrolle Drei, vier Jahre im digitalen Zeitalter erscheinen uns wie Dekaden der industriellen Revolution. In seinem bemerkenswerten Essay Die Facebook-Gesellschaft (der Freitag 35/2016) schrieb Roberto Simanowski also „schon“ 2016 aus philosophischer Perspektive, wie fundamental Facebook die Welt in vielen Facetten verändert. Stand heute: Die Plattform, die 2010 dem Arabischen Frühling (➝ Befreiung) Aufwind gab, ist zu einer Datenquelle von „statistischem Herrschaftswissen“ verkommen, einem Tummelplatz für Ideologen und Trolls jeder Couleur. Bizarr: In vielen Teilen der Welt gilt Facebook inzwischen als Synonym für das Internet überhaupt.Die Gefahren von sozialen Netzwerken seien jedoch zu komplex für eine hyperventilierende Skandalisierung ohne Konsequenzen oder Maßnahmen aus dem Tal ahnungsloser Politik. Der Dialog über das politisch Unverbindliche (Matthes & Seitz, 12 €), ein old-fashioned E-Mail-Briefwechsel mit dem Experten Ramón Reichert über die Sozialmaschine Facebook, nimmt sich Zeit für eine ruhige Analyse. Denn „wer das Problemgeflecht von Hassreden, Filterblasen, Datenschutz und Manipulation weiterdenkt, ahnt, dass die Gesellschaft insgesamt gefordert ist, sich politisch und mental auf den Stand ihrer Technologien zu bringen.“ Katharina SchmitzUUtopie Kein Freitag ohne Professor Schütz. Monatlich präsentiert er Lesefrüchte aus einer Masse an Neuerscheinungen, bei der Normalleser nicht einmal davon träumen, sie überblicken zu können. Doch Erhard Schütz ist nicht nur Freitag-Kolumnist. Im echten Leben ist er Literaturwissenschaftler. Und ein ungemein produktiver! Davon konnte man sich im Oktober überzeugen, als wir das Vorwort zu Mediendiktatur Nationalsozialismus (Universitätsverlag Winter, 48 €) abdrucken durften. Wie der spätere Germanist als junger Mann über verfemte Bücher, verborgen auf dem elterlichen Dachboden, zum Lebensthema kam, ist auch ein Stück Forscherbiografie. In Die „Utopie des Alltäglichen“. Nachdenken über Nicolas Born (Hg., mit Jan-Pieter Barbian, Wehrhahn, 29,50 €) nähert sich Schütz einer großen Sache ebenfalls gewissermaßen von der Seite. Borns Science-Fiction-Kinderbuch Oton und Iton (1973) nimmt er sich vor, wobei er feststellt, dass dieses „Nebenwerk ... eher ein trojanisches Pferd war, nämlich in seinem Inneren Borns gut bewährte literarische Vorhut mit sich führte“. Das ließe sich so ähnlich auch über Schütz’ Freitag-Miniaturen sagen, finden wir. Mladen GladićVVielfalt Erst mal muss dieses Verbot weg: Wer die biologische Vielfalt retten will, sollte das Sammeln von Schmetterlingen und Käfern in Schutzgebieten erlauben; so steht es in Tanja Busses Buch Das Sterben der anderen (Blessing, 18 €) unter Berufung auf gestandene Naturschützer. Sammelverbote seien Unsinn, sie entfremdeten gerade Kinder der Natur, statt sie für die Vielfalt der Arten zu begeistern.Es gibt diese Vielfalt durchaus noch zu entdecken – auch wenn beim Lesen das Erschrecken spürbar ist, das Busse während ihrer zweijährigen Recherche heimgesucht hat: der Besuch beim Entomologischen Verein Krefeld, dessen Horror-Studienergebnisse das Sterben der biologischen Vielfalt dokumentiert und 2017 endlich zu einem öffentlichen Thema gemacht haben. All die Gespräche mit Ökologen, bei Spaziergängen an begradigten und renaturierten Flüssen, durch grausam ausgeräumte Feldlandschaften oder über einen Truppenübungsplatz, wo der Kleine Heidegrashüpfer seinen letzten Rückzugsort hat. All das Wissen um die Rolle der Landwirtschaft: Tanja Busse, die auf einem Bauernhof aufwuchs und im Freitag zuletzt den Bauernprotest wegen des Klimaschutzes kommentierte (48/2019), hat ein Buch geschrieben, das alle lesen sollten, denen etwas am Leben auf diesem Planeten liegt – nicht nur dem der Insekten. Sebastian PuschnerWWohnen Wem gehören die Häuser? Keine leichte Frage. Während eine Mieterin ihre Wohnung zeitweise besitzt, ist eine andere die Wohnungseigentümerin. Sie kann der Mieterin den Besitz wieder entziehen, wenn die Miete nicht gezahlt wird. Dann muss die Mieterin raus, egal ob die Eigentümerin die Wohnung braucht. Die kann sie auch leer stehen lassen.Inmitten der Debatte über den Eingriff in das Privateigentum durch den Berliner Mietendeckel und das Volksbegehren zur Enteignung von Wohnkonzernen hat die Politologin Sabine Nuss Sinn und Herkunft von Eigentum nachgespürt (Keine Enteignung ist auch keine Lösung, Dietz, 12 €). Schnell lernt man: Privateigentum regelt die Beziehung zwischen Menschen – über Ausschluss von Verfügungsmacht. Langsamer lernt man: Das war nicht immer so. Eigentum war kollektiv geregelt, die Gemeinschaft entschied, wer was bekam und wofür. Das lief oft nicht demokratisch ab. Könnte es aber. Sagt Sabine Nuss. Und schlägt eine kleine und eine große Wiederaneignung vor. Die Rekommunalisierung der Deutsche Wohnen wäre die kleine. Elsa KoesterZZauber Es endete bekanntlich mit einer Art kollektivem popkulturellen Trauma. Für viele mag es deshalb zu früh sein für den kühl-analytischen (➝ Analyse) Blick, den Elke Brüns im Rahmen von Reclams 100-Seiten-Reihe auf die Serie Game of Thrones wirft (10 €). Andererseits geht von der wohlinformierten Distanz, mit der Brüns quasi im Ton einer Forscherin dem Zauber des Fantasy-Phänomens nachspürt, auch eine ernüchternde Kraft aus, mithin Labsal für die erlittenen Wunden des „culture war“. Egal ob man die Petition zur Neuverfilmung der achten Staffel unterschrieben hat oder zu den Weiss/Benioff-Apologeten gehört – auf Brüns’ bündige Zusammenfassung kann man bestens zurückgreifen, wenn man keine 73 Stunden Zeit findet, um selbst zu sichten. Barbara Schweizerhof
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