Heimat-verlust

Der Abschied hinter jeder Ankunft Hans Jacobus schreibt in seinen Lebenserinnerungen über alte und neue Verfolgungen

Der Titel ist vielleicht weitreichender, als er auf den ersten Blick erscheint: Beim Betreten des Hauses heißt das Buch, das einer der ehemaligen Chefredakteure des Sonntag, eine der beiden Vorgängerzeitungen dieses Blattes, gerade veröffentlicht hat. Erinnerungen an Momente und Jahrzehnte im Untertitel. Setzt man beides in Beziehung, so kommt heraus: Das Haus wurde nie wirklich erobert, immer dann, wenn der Autor meinte, es in Besitz nehmen zu können, waren da welche, die an seinen Rechten rüttelten, ihn von der Schwelle schoben, mit barbarischen Methoden.

Es gibt Biografien, die allein durch Fakten auf eine bestimmte Zeit verweisen. Diese Lebensläufe sind nicht definiert durch Geburt, Eltern, Beruf, Gesellschaft, sondern durch Heimatlosigkeit, Flucht, Mord und immer wieder enttäuschte Hoffnung. Man stelle sich vor: Eine ganz normale Mutter heute müsste ihre halbwüchsigen Kinder in einen Zug setzen, von sich fort schieben in eine ungewisse, nur vielleicht vorhandene Zukunft ...

Der Autor ist eines jener jüdischen Kinder, die 1938 nach England geschafft wurden. Das faschistische Deutschland hatte ihre Kinderträume jäh beendet, wo die Wiege von Eltern und Großeltern stand, herrschte arischer Größenwahn. Kann man Stigmatisierung, Verfolgung aller Verwandten, das Allein-gelassen-werden je verarbeiten? Welche Stellenwert hat ein Begriff wie Heimat dann noch? Was erwartet man von einem Land, in das man schließlich zurückkehrt? Jacobus lässt viele Fragen bis heute nicht an sich heran: »Wie könnte ein Mensch das aushalten«, beantwortet er ein solches Ansinnen. Er versucht, so dicht wie ihm möglich, an den Fakten zu bleiben. Die Spuren der Familiengeschichte zusammen zu tragen, »das Haus« noch einmal »zu betreten«. Er entdeckt die Normalität von heute und die Geschichten von gestern. Die alten und die neuen Verfolgungen. Zu keiner Zeit war Jacobus mehr als nur vorübergehend im Inneren des Gebäudes.

Die Engländer nahmen die Kinder zwar auf, verschifften sie aber nach Australien. Exilierte Kommunisten nahmen sich ihrer an, formten sie - es waren die einzigen, die ihnen in ihrer Muttersprache Zuneigung, Vertrauen und Liebe entgegen brachten. In den fünfziger Jahren waren diese Emigranten nach ihrer Rückkehr in das sozialistische Deutschland selbst bedroht. Von den Genossen mit sowjetischem Emigrationshintergrund, die allen Westemigranten misstrauten. Die gewonnenen Positionen der englischen Ziehkinder entpuppten sich als fragile Geschenke. Türen schlugen zu, rigoros - sogar mit Hinweis auf die jüdische Herkunft. Der Autor bezahlte mit sieben Monaten Haft für die Tatsache, dass er mit englischer Hilfe vom Tod verschont blieb.

Wie oft kann ein Mensch totalen Beziehungsverlust ertragen? Jacobus sah nur einen Weg, um endgültigem Identitätsverlust zu begegnen: Nicht nachgeben, nicht denen weichen, die sich als seelenlos erwiesen. Jeder glaubt, er könne das Schlimmste nur von innen heraus verhindern und ergreift die Hand derer, die ihm neu entgegen kommen. Er beschreibt seinen Aufstieg als Journalist bei Rundfunk und Fernsehen der DDR in den stereotypen Redewendungen dieser Zeit, da konnte kein Abstand sein. Schließlich als Chefredakteur des Sonntag. Der ihm ganz anderes bedeutete als mir, einer der Redakteurinnen mit viel leichterem Lebensgepäck. Damals, so scheint es, war er innen im Haus. Das will er festhalten. Daran hängen die Ideale. Auch wenn er sieht, dass vieles »falsch gemacht« wurde, auch wenn er - wahrscheinlich zum ersten Mal - darüber nachdenkt, was das Jüdische in der DDR eigentlich bedeutete, die Summe ergibt immer noch das beste Resultat, das in seinem Leben möglich war.

Und dann der dritte Heimatverlust. Als die DDR zusammenbrach. Die vierte Ankunft ist für ihn am schwersten. Alte Bäume biegen sich nicht. Die Ideale haben Risse, selbst wenn er das Wurzelwerk für intakt hält. Die neuen Geschichten transportieren zu viele alte Ängste: Was, fragt er sich, ist das für ein Zungenschlag, wenn der Freund der Tochter von seinem Mädchen als Halbjüdin spricht?

Hans Jacobus, Beim Betreten des Hauses, Nora Verlagsgemeinschaft, Berlin 2002, 202 S., 12,50 E

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