I In den Aphorismen sagt Kafka: "Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend." Weiter sagt er: "Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles Frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen." Die Fixierung auf Früheres, Vergangenes, das Wiederentdecken von Traditionen findet für gewöhnlich statt, wenn die Gegenwart zu stagnieren, die Zukunft wenig aussichtsreich scheint. Nie dagegen schien sie aussichtsreicher, nie hatte sie mehr zu bieten als heute, im Zeitalter so gut wie unbegrenzter technischer Möglichkeiten, absoluter medialer Vernetzung.
Der Status quo hat seinen Ausdruck zuerst im Globalisierungsdiskurs gefunden. Die Aufspaltung in Teildiskurse - Terror-, gentechn
se - Terror-, gentechnischer, tagespolitischer, Wiederenteckung-der-Werte-Diskurs und weitere - resultiert aus der Verlagerung des Inhaltlichen auf verschiedene Ebenen mangels übergreifender Vision. Außer Sicherstellung der Ressourcen, Monopolverschmelzung, Stabilisierung der Nahrungskette für neun Milliarden Menschen im Zeitraum der folgenden Generation - dann nämlich soll das Wachstum nach Auskunft der Demoskopen stagnieren - existiert kein im Wortsinn gesellschaftsfähiges Projekt. Der am heftigsten betriebene Diskurs (der Konsolidierung) verdankt seine Dynamik einem Überschuss an Lösungen, wie die Betrachtung anstehender Themen verdeutlicht. Die Lösungen im Angebot brauchen einen Grund, die Frage nach dem Wohin braucht ein Wozu.Ein Beispiel. Hinter der Debatte um das wiederentdeckte Drama der aus dem einstigen Osten Deutschlands Vertriebenen verbirgt sich mehr als der Teilaspekt Vergangenheitsbewältigung; sie wird stellvertretend für die Zukunftsbewältigung geführt. Unter dem Mantel der Geschichte als Vergangenes lässt sich das Problem in Deckung diskutieren. Nur wer die Vergangenheit bewältigt, kann nach der Zukunft greifen, heißt die Binsenweisheit der Zivilisation, seit sie den Geschichts-Begriff führt. Ein anderer schwer zu greifender Begriff liegt dem im Kern: Heimat. Die Deutschen als Opfer - im Bombenkrieg, während der staatlichen Teilung, der Umordnung der Welt unter Vorherrschaft der USA, und wie noch die Überschriften lauten, sie stehen für einen Begriff, der angesichts der Gesichtslosigkeit des Kommenden unvermittelt roh vor einem steht. Es ist das schlichte Wort - Heimat -, das allem Muff entblößt die dunkle Seite zeigt. Das Dunkle ist die Abwesenheit. Heimat ist die um die Meridiane geschleifte leere Konserve der Millionen Job-Wanderer, Touristen, Immigranten, Terroristen in Nonstop-Flucht auf dem Planeten. Heimat hat niemand im Gepäck, und Blochs Vermutung, dass Heimat ist, wo niemand war, lässt sich mit Pasolinis trotzig-melancholischer Behauptung: "Ich bin eine Kraft der Vergangenheit" so gut bestätigen wie auch in Frage stellen. Es ist nicht das Privileg der Umsiedler, der Ostdeutschen, der Osteuropäer, der ihre Kontinente fliehenden Asiaten und Afrikaner; es ist die Suche nach der Alternative zur "posthistorischen" Gegenwart. Jeder bezieht seine Kraft aus der Vergangenheit, nicht nur im zitierten alten Europa. In den USA als weltgrößtem Einwanderungsland ist Heimat traditionell ein flexibler Begriff, der Herkunft und Ursprung mit dem Pioniergestus des Standort-Eroberns verknüpft. Jeder ist eine Kraft der Vergangenheit, die - vorwärts oder mit dem Gesicht zur Herkunft gerichtet - in die Zukunft greift. Wer nur Gegenwart hat, ist das ideale Objekt politischer Willkür, wird verweht werden, ist der Samen im Wind, den Walt Withman über seinen Kontinent treiben sah.Wo der Horizont der Geschichte sich zu schließen beginnt, bleibt als Blickpunkt die Vergangenheit. Wo ein Ende der Geschichte abzusehen ist, wird man sich umwenden. Der Rückweg verspricht mehr; ein Verständnis der Gegenwart vielleicht, die keinen Entwurf für den Menschen außer seiner Reproduzierbarkeit hat. Zeit der Auferstehung, Wiederankunft im Reich der Utopie, wo sich die Visionen von der Austauschbarkeit des Menschen überlagern: das kommunistische Programm der Aussichtslosigkeit des Einzelnen mit dem kapitalistischen der restlosen Verwertbarkeit des Individuums. Die Suche nach Geschichte ist Arbeit. Im Zeitalter zunehmend frei verfügbarer Zeit ein nicht gering zu schätzender Faktor. Die Arbeit der Bewegung ins Historische, die Rückwärtsbewegung, die Suche nach Herkunft ist Arbeit an der Heimat. Geschichte ist ein Modell, über dem HEIMAT in Großbuchstaben leuchtet. Seit dem Erstvertriebenen Adam dem zurückliegenden paradiesischen Endzustand näher als der greifbaren Umwelt hienieden; seit dem ersten Buch Moses eine Grundfeste der Verlorenheit in der Kultur.Heimat. Ein Wort, das ich in der Kindheit zur Übergenüge aufsagen lernte. "Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer / Das sind auch die Fische im Fluß" undsoweiter. Es war eine Sache, die das Leben wert war. Der Heimatbegriff war im Pionierausweis statuarisch verankert. Heimatliebe war ein Pflichtpfand, zu entrichten wie beim Zoll. Ein anderer, gleich wichtiger Begriff war Arbeit. Was Marx und Engels als Zukunftsentwurf für die kommunistische Utopie, ihrem prognostizierten Ende der Geschichte, aufgestellt haben, kann heute die Bewegung in die Vergangenheit sein, ein Lernprozess. Erst durch Arbeit würde der Mensch zum Menschen, spricht Engels wie die Propheten in der Bibel, nur der verdiene sich, nach Goethe, "Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss". Freiheit widersetzt sich wie Heimat der eindeutigen Definition. Erobern ist zum leichthinnigen Er-Fahren geworden, Freiheit als Grundrecht unserer derzeitigen Gesellschaft so selbstverständlich, dass sie nur punktuell wahrgenommen, durch Schock kontrastiert werden kann. Naturkatastrophen, privates Unglück, "Ereignisse" sind das Repertoire solcher Schocks. Der Großteil der Fernsehprogramme illustriert mit Entertainment den Anteil der Freizeit an der Veraffung des Menschen, um ein Engels-Wort im Mund des Philosophen umzudrehen. Der Zeitgeist geht mit dem Weltgeist konform, der, mit Hegel, durch Tätigkeit zum Selbstbewusstsein findet. Der Freiheitsbegriff des zweiten kleinbürgerlichen, sogenannten nachideologischen Jahrhunderts ist - auf Freizeit reduziert - zu ihrem Gegenteil geworden: Vor Freiheiten erkenne ich den Zwang nicht mehr. Alle Bewegung führt aus der Freiheit, die selbst ja nur in Selbst-Beschränkung wirklich zu erfahren ist, heraus auf die Suche nach immer neuem Bewusstsein. Das neue ist das alte: Selbst-Bewusstsein. Auch wer nicht mehr weiterkann, weil er überall schon war, wird zurück wollen. Wenn ich aber überall hin kann, wohin soll ich noch zurück? Angenommen, die Terrorpiloten des 11. September waren auf Heimatsuche, ihre Ankunft im 80. Stockwerk die Rückkehr in den Rahmen des Feindbildes - vielleicht suchten sie dort die verlorengegangene Identität ihres Kulturkreises, unter dem Bild das übermalte Original oder den Anfang einer Traditionslinie, die nicht nur Gläubigen der Faden durch das Labyrinth der Gegenwart ist. Angenommen so, dann wäre mit einem Terrorpotenzial unter Ostdeutschen in Zukunft zu rechnen, und das Bemühen der staatlich-rechtlichen Fernsehprogramme um Nostalgieveranstaltungen Ost erklärt.Modelle. Baudrillard eröffnet seine 1984er Vorlesung Das Jahr 2000 findet nicht statt mit einer Idee von Canetti: Von einem Zeitpunkt ab ist Geschichte nicht mehr wirklich; ohne es zu merken, hat die Menschheit die Wirklichkeit verlassen, alles was seither geschah, ist wie nicht geschehen, unwahr. Aufgabe der Menschheit ist es von hier an, den Zeitpunkt des Austritts aus der Wirklichkeit zu finden, ein Vorwärts zum Zurück. Das Science-fiction-Szenario ist ein Albtraum nach Dante: Alles noch mal oder wissen, was kommt. Canetti hatte vielleicht recht. Die Menschheit hat die Umlaufbahn der Geschichte infolge zunehmender Beschleunigung verlassen, die Reibung der Systeme aneinander hat die Gegenwart derart mit Energie geladen, dass sie nun - im Vakuum jenseits der Geschichte gelandet - verharrt wie die Bekettsche Verwaiser-Population im Biotop des Hohlzylinders aus Gummi: "Eine Bleibe, wo Körper immerzu suchen, jeder seinen verwaisten. Groß genug für vergebliche Suche. Eng genug, damit jegliche Flucht vergeblich." Das ideologische Modell hat ausgedient mit dem Ausstieg aus der Geschichte. Der Wiedereintritt in ihre Umlaufbahn, ist der Versuch zu Heimat, wenigstens Herkunft zu finden. Das Jahr 2000 hat stattgefunden, virtuell möglicherweise, und die Zukunft liegt zurück in der Vergangenheit.II Das Motiv einer Bewegung in die Geschichte - nicht rückwärts, aber zurück, den Blick ins Vergangene gerichtet - wird ohne subjektiven Impuls ein sinnloses bleiben. Ich kann vielleicht für andere reden, aber reden kann ich nur von mir. Meine Geburt am 31. Oktober 1963 in der DDR-Hauptstadt fand vor einem anderen prognostizierten Ende der Geschichte statt. Eines ideologisch mehr verordneten als historisch begründeten. Ein Vierteljahrhundert später zeigte sich, dass dieses Ende das Ende eben der Ideologie war. Der Glücksentwurf, der dem Ende als Ziel der Geschichte entsprechen sollte, stand zum Zeitpunkt meiner Geburt in Widerspruch zu sich selbst, das lebbare Menschenglück im Gegensatz zum Entwurf. Bald schien mir die Vergangenheit der Gestaltungsversuche verheißungsvoller als deren Gegenwart. Von Zukunft wollte ich nichts wissen. Ich wich den Ritualen um den Opferkult der schmerzvoll der Geschichte abgerungenen Arbeiterundbauernrepublik, die offensichtlich in den kommunistischen Endzustand hineingefeiert werden sollte, aus. Ich nahm den anderen Weg, ich las, suchte Geschichten, ich wollte zurück zu den Körpern der Schatten der staatlich doktrinierten Totenbeschwörung, tiefer, hin zu einer Zeit, da angefangen hatte, was nun derart stockte.Ich erinnerne mich an ein Buch, Schlüssel zum Glück, gekauft im deutschen Antiquariat in Prag in den Sommerferien 1981, Lektüre für die Reise zurück nach Berlin. Das Buch war in der Heimat zwar erschienen, aber schwer zu haben; es galt als Tip. Der Autor Michail Sostschenko, bekannt durch realsozialistische Absurdata wie die berühmte Kuh im Propeller, behauptete sich untergründig als Satiriker gegen den Geist der sowjetischen Lebenslüge, dass die Freiheit aller die Bedingung für die Freiheit des Einzelnen ist. Der Satiriker war daran zum Melancholiker, zum Depressiven geworden. Majakowski legt Psychoanalyse nahe, Pawlow warnt dringend vor dem Selbstversuch. Sostschenko sieht keinen Weg als den zurück und lässt sich sinken in die Tiefe des bislang Gelebten, auf den Grund der eigenen Dinge. Er findet sich wieder in der bürgerlichen Herkunft, frühkindlichen Anlässe für seinen Seelenschaden eingeschlossen. Sostschenko hat sich ein Bild von sich gemacht, eine verdrängte, tabuisierte Traditionslinie wieder aufgenommen, die ihm das Leben nicht leichter gemacht, ihm seine Schwermut doch genommen hat, ihn rehabilitiert hat zum Subjekt der Geschichte. Wer nicht zurück zur Herkunft findet, wird sich an Mythen halten. Noch die kühn konstruierten Mythen der Werbung rufen im Begriffsgedächtnis Zusammenhänge ab, die einem - vorausgesetzt man wird sich dessen bewusst - die Mangelware der eigenen Subjektivität vor Augen führen. "Nichts ist unmöglich." - "Just do it." Zum Beispiel. Was geschieht, wird auf "Ereignis" reduziert, wahrgenommen, aufbewahrt nach Gestus: "wie im Film". Der Bildertransport häuft einen Begriffskatalog an, der am kritischen Punkt in einen Wertekanon kippt, wenn die Bilder die Ereignisse bewerten. So sprachen die überlebenden Schüler in Erfurt mit den Toten zum Abschied im Vokabular der Bildersprache: "Nur die Besten sterben jung!" Ein Zitat aus einem anderen Film, aber was macht das, wenn man sowieso im Kinematographen lebt, wo die Realität zur grausamen Belohnung des Geschauten wird. Die Bilderwelt erscheint der Ereigniswelt übergeordnet, eine Heimstatt gibt es nicht, nur ein Bild davon. Die Heimat-Bilder - Pionierhorizonte, Mickeymäuse, Pop-Idole, Überväter, Bildschirmdouble und sofort - sind ab irgendwann Bilder von Bildern, nichts sonst. Sich davon zu lösen, weiter zu gelangen, braucht es den kollektiven Schub. "Nur in der Masse kann sich der Einzelne ohne Schaden ins Extremste individualisieren", formulierte Brecht seine kommunistische Vision vor 75 Jahren, sie ist die aktuelle Utopie. Sie wird ohne ideologischen Überbau nicht praktikabel sein.Heimat, ein Begriff, den es in keiner Sprache außerhalb der deutschen gibt. "Bin gar keine Russin, stamm´ aus Litauen, echt deutsch." Das Dialogstück aus T.S. Eliots Langzeitgedicht The Waste Land, Requiem eines Europas zwischen den Kriegen, lässt sich als Beschreibung solchen disparaten Bildgefüges lesen. Das umstrittene Europa heute ist unter anderem ein Streit um Heimat, die konstituionell zu verankern nicht ist. Vielleicht muss ein intaktes Bild zerschlagen werden, um hinter den Spiegel zu gelangen. Der Mythos von Orpheus dem Sänger erzählt vom Versuch, den Menschen aus der Zeit zu heben. Benn empfiehlt Wittgenstein, wenn der einzelne nicht weiter weiß: "Die Grenze der Sprache ist die Grenze meiner Welt." Dass die Unzufriedenen im entferntesten Balkan und am Hindukusch ihre Protestchöre auf Englisch intonieren, das sie womöglich weniger verstehen als Esperanto, in der Hoffnung, ausländisches Fernsehen übertrage, umreißt das Weichbild des globalen Dorfes, das vielleicht noch Platz für alle hat, für wenige aber Bestimmung.Ein Beispiel aus der Gegenwart. Ein Philosoph, der für sein Denken keinen Lohn bekommt, begibt sich am 1. Mai des Jahres zum Arbeitsamt, der Meldepflicht nachzukommen wie alle halbe Jahre. Nur selbstverständlich scheint ihm, dass am Tag der Arbeit auf dem Amt für Arbeit gearbeitet würde, sein Kalender verzeichnet keine Feiertage. Und Tatsache: Er ist nicht allein. Ein Häuflein der Aufrechtesten schart sich stumm protestierend um die rote Fahne. "Arbeit!" steht auf ihrem Spruchband, sonst nichts. Zweiter Versuch: Am Tag nach dem Tag der Arbeit ist das Arbeitsamt Berlin-Nord von acht Uhr morgens an so gut besucht wie gewöhnlich in krisengeschüttelter Zeit, nicht anders als in den dreizehn Jahren seiner Langzeitarbeitslosigkeit. Arbeit scheint hier nicht zu holen, keine erstrebenswerte, traut man den Gesichtern derjenigen, die ihre Vermittlervorzimmer verlassen: Reihenuntersuchung, schlimmstenfalls Zahnarzt, gelegentlich Proteste der sich ungerecht vermittelt Fühlenden, der Zwangsumgeschulten, Gefoppten. Mehr als die Hälfte ist dem Augenschein nach knapp volljährig, www.arbeit-fuer-junge.de wirbt mehr für die Utopien des Internet als für Arbeit. Arbeit, klar, ist cool, Arbeit haben noch viel cooler. Unter Umständen kann Steinewerfen das kompensieren, am 1. Mai vor allem, wie der Philosoph auf dem Nachhauseweg erfährt, er endet zur Nacht auf der Unfallstation. Zitiert Lukács (der Fichte zitiert) mit dem hilflosen Lächeln seines Berufsstands: "Die vollendete Sündhaftigkeit der Zeit besteht in ihrer transzendentalen Obdachlosigkeit."Die Brutalrituale des 1. Mai als Fall für die Deeskalationspolitik des jeweiligen Innensenators einzustufen, ist so kurzsichtig wie verbreitet, der Blick zielt an der Ursache vorbei. Statt den 1. Mai, wie allgemein gefordert, zu entpolitisieren - "de-eskalieren" - muss er politisiert werden. Wie schwierig das ist, fällt einem auf, wenn man denkt, wie entfremdet Arbeit nicht nur als Begriff heute ist. Ein Tory-Slogan bringt es auf den unvereinbaren Nenner: "What´s so political about Labour?" Arbeit als Lebensinhalt? Wird es nach bisherigen Vorstellungen - als Lohnarbeit zur Stabilisierung der Moral und Steigerung der Lebensbedürfnisse - nicht mehr geben. Arbeit als "Technik des Glücks", wie der Dichter, Berufsrevolutionär und Unternehmer Franz Jung es zu sehen versucht hat, ist nicht länger Lohnarbeit, jenseits der industriellen Gesellschaft, die im Osten Deutschlands einen Anfang hat und sich ausbreiten wird. Arbeit als Selbst-Verständigung, frei von Hoffnung, von moralischem Vorteil, kann dann ein Schlüssel zum Verständnis der Geschichte sein. Wo keine Arbeit ist, ist kein Kulturkreis, keine Heimat, nicht Vergangenheit noch Zukunft. Ein Konfliktknoten, der nur um den Preis der Selbstauslöschung zu zerschlagen ist. Es ist der Druck des gesellschaftlichen Vakuums, der auf dem einzelnen "Betroffenen", Individuum oder Völkergruppe, lastet. Dem zu entrinnen, sprengt der Einzelne das Vakuum, schafft und wird: Ereignis. Zerstörung und Selbstzerstörung als letzter Akt des Humanismus und der Selbsterkenntnis, des bestimmten Übersichverfügens. Baudrillard, ein Philosoph mit Arbeit, nennt es den Endpunkt der Aufklärung: Totaler Terror gegen den Totalen Markt. Das Rätsel der Vernichtung gegen das enträtselte Geheimnis Mensch am Vorabend der Austauschbarkeit. Das Projekt des Globalismus als Schleifung aller Widersprüche zu Tauschwerten, ist die weltweite Deeskalationspolitik, die an den Ursachen der Konflikte nichts ändern wird, weil sie davon zehrt. Spätestens wenn auch in der blühendsten Landschaft keine Arbeit mehr zu geben und zu nehmen ist, wird der Gedanke sich aufdrängen, ob nicht Grundlegenderes zu ändern, abzuschaffen, einzuführen ist. Topoi - von denen hier die Rede ist - sind da vielleicht ein Anfang: Die Grenze meiner Sprache ... ist zum Beispiel Heimat. Heimat ist Arbeit, haben und nicht. Das althochdeutsche arabeit wird etymologisch in Nähe eines untergegangenen Verbs (Tu-Wort, sagen die Kinder, heißt es in der Schule) mit der Bedeutung "verwaist sein/ein zu schwerer körperlicher Tätigkeit verdingtes Kind sein" verortet. Das althochdeutsche heimuoti kam mit demselben Suffix in die Wörterbücher, mit dem auch Armut und Einöde abgeleitet wurden von jenem Substantiv, das im Mittelhoch- und Althochdeutschen schon heim hieß, im Englischen home heißt, und das verknüpft mit der indogermanischen Sprachfamilie für Haus und Wohnort = Heimat = Heirat = Hausbesorgung = Arbeit stand und teilweise noch steht. Über das deutsche Sprachgebiet ist das Wort, das unter der Mehrheit der Bevölkerung heute eher großelterliche Assoziationen auslöst, nicht hinaus gekommen. Heimat als etwas zu Überwindendes ist mit der Geschichte der Deutschen in der Mitte Europas (im Zentrum der Welt, wie es einmal hieß, ohne Raum) zum Stillstand gelangt und ruht in Vollendung, bis die Geschichte erlöst wird von anderer Macht; am Ende kommt die Natur zu ihrem Recht, die den Menschen nicht braucht. Das, zum Beispiel, wäre eine Option von wievielen.III Und wie ist es gekommen, dass die schreienden Kälber und Ferkel, frühmorgens in den Zügen zu hören sind beim Halt in der rußverhangenen S-Bahnstation Leninallee, zwischen Zentralviehhof und Frankfurter-, früher Stalinallee? Warum sind mir die zerscharteten kadavergrauen Fassaden meiner Heimatviertel Berlin-Prenzlauer Berg und Friedrichshain näher in der Erinnerung als die restaurierten und versiegelten heute in denselben, teils umbenannten Straßen? Ist es so, weil ich ein Kind war, dem alles Heimat ist, was es - egal wie übel umflort - am Anfang erlebt? Ist es Protest, dem die Stufe zur Relativierung (in eine Haltung, wie der Philosoph sie empfiehlt: "Gegen Trends kannst du nicht demonstrieren!") noch fehlt? Dass mir die trübe strenge Umwelt meiner Kindzeit nicht als solche im Bewusstsein ist, dass sie mir als Heimat mehr bedeutet als die planschenden Schwimmer in den Sporthallen am S-Bahnhof, jetzt wieder Landsbergerallee; dass mir das um halb sechs Uhr früh notwendige Erscheinen in den verrotteten Hallen des Volkseigenen Transformatorenwerks Karl Liebknecht und des Kabelwerks in Oberschöneweide Synonym für Heimat sind? Weil es nun dazu gehört, zu mir und meinem Werden? Ist jemand, der das so sieht, schon pervers? Hoffnungslos nostalgisch orientiert, pathologisch sentimental? Vorwürfe derart gibt es genug, nicht nur an meine Adresse. Antworten kann ich: Ich will ja nicht dorthin zurück. Aber es bleibt eine Differenz, mit Bedauern anzusehen als Versäumtes, im Feld zwischen Ruine und Neubau sozusagen. Und wie geht es - wenn mich meine Tochter, gerade 15 geworden, fragt - jetzt weiter?Kultur ist Erzählung, und deshalb sollst du dich erinnern, deshalb erzählen. Der Soziologe Wolfgang Engler hat den Status der Ostdeutschen in der Gegenwart für die Zukunft als Fragenkatalog beschrieben. "Wo sind die architektonischen und städtebaulichen Zeichen des Wendeprozesses, die Ostdeutsche für Ostdeutsche gesetzt haben, in ausdrücklicher Bezugnahme auf beides, auf Herkunft wie Wandlung; wo sind die Markierungen des kollektiven Gedächtnisses, die sie dem öffentlichen Raum aus eigenem Antrieb und in eigener Regie eingeschrieben haben? Wo sind die Wirtschaftsunternehmen in ostdeutscher Hand, deren bloßer Name ihnen und der Welt etwas von einem neuen Wirtschaftswunder erzählen würde?" Und es ist ein westdeutscher Modeschneider, der sagen kann, was Ruhepol und Unruheherd war in einem: "Die Glückschancen in der DDR waren gering, aber messbar." Vielleicht rührt die tiefe, erstaunliche Zufriedenheit einer Mehrheit mit ihrer Situation dorther, vielleicht. Nachdem, die Chancen ausgeschritten waren, mussten es die Grenzen sein, sie waren im Wortsinn von der Geschichte überholt worden und verliefen nicht länger, wie ein frühes Nach-Mauer-Graffito in Kreuzberg reklamiert hat, zwischen West und Ost, aber wieder zwischen Oben und Unten. Glück kann klein sein und bedarf keiner Vision. Es ist, sagt Sartre, die Krebszelle des Bürgertums, dass es nur private Wahrheit akzeptiert. Welche sonst sind geblieben in der entkollektivierten Gesellschaft? Und es gibt keine Dialektik ohne Identität, sagt der gespaltene Adorno. Und das alles trifft auf uns zu. Das Private kennt keine Utopie. Sie ist geboren aus gesellschaftlichem Unbehagen, ein Negativschatten der Zivilisation seit es sie gibt. In diesem Schatten entsteht das Reich des Hoffnungsfrei, des Nichtbesitz, des Nirgendwo, das denen bleibt, denen auf Erden nicht zu helfen ist. Bloch hat die Utopien geographisch aufgeschlüsselt, Kafka hat den Maßstab benannt: "Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr, dieser Punkt ist zu erreichen." Heimat ist die letzte Utopie, die an die erste aller anschließt.
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