Auf dem Gotthard, das stellte schon Goethe fest, ruht ganz Europa. Unmittelbar „auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht, keine zusammengeschwemmten Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt.“ Zwar bröselt der hiermit fein umrissene Gotthardmythos, der zuvorderst ein Schweizer Nationalmythos ist, unter dieser ideologischen Last sowie unter ständiger Schmirgelei von Wind, Wetter und Vibramsohlen seither still vor sich hin, doch hat das viele Eidgenossen nie daran gehindert, im Gotthardmassiv weiterhin jenes Bollwerk zu sehen, das höchstmetaphorisch für die wehrhafte „Willensnation“ Schweiz steht, die in der Mitte Europas allen Stürmen der letzten Jahrhunderte t
e trotzte.Zentraler PenisschmerzHinter Riegeln aus grauem Gneis, hineinbetoniert in dunkle Scharten, mit abertausend Metern Kabel elektrifiziert, liegt aber noch ein anderes mythologisches Kraftzentrum der Schweiz. Eines, um das sich gleichzeitig die jüngsten und die vitalsten Legenden ranken: Das Reduit, die Schweizer Alpenfestung. Die Eidgenossen haben ihren heiligen Berg ausgehöhlt und ein Monument der Wehrhaftigkeit im Mythos Gotthard installiert. Für den Fall der Fälle eines Überfalls – der nie je eintrat: Die Stahlrohrbetten blieben kalt, die hinter falschen Felsen verborgenen Kanonen erodierten, die Schotten blieben dicht. Der männlich-militärische Mythos tut es dem natürlichen gleich: er bröselt.Das muss frustrierend sein. Und Frust entlädt sich in der Schweiz bekanntlich an der Urne. Um also zu verstehen, wieso die Schweizer etwa am 9. Februar gegen die auf ihr Land zurollende „Masseneinwanderung“ gestimmt haben, schrieb der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann kürzlich in der FAZ, müsse man auch „vom Reduit sprechen“. Ja, mehr noch: „Der Rückzug in die Höhle entspricht unserem Bergler-Geist. Was den Deutschen der Wald, ist uns die Höhle.“Starker Tobak, fanden viele Lands-und Eidgenossen. Aber Hürlimann hat in mancher Weise recht. Gotthard und Reduit mögen bröseln, als Erinnerungsorte aber strahlen sie weiter. Nicht nur hinein ins kollektive Gedächtnis der Schweiz, sondern immer auch ins Schweizer Literaturschaffen. Die bergtiefenwarme, nicht mehr ganz dichte Höhle – in der die Kleinstpartikel modernder Armeedecken lautlos durch den Tunnelmief schweben – taugt als Bild für die nationale Identität des permanenten Rückzugs. Und die zu karikieren, bot sich für die Schriftsteller des Landes seit jeher an. Die Liste der literarischen Karikaturisten ist dementsprechend lang, ihre prominentesten Einträge verweisen auf Friedrich Dürrenmatt (Der Winterkrieg in Tibet, 1981), Hermann Burger (Die Künstliche Mutter, 1982) und Christian Kracht (Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, 2008). Ihnen allen gemein ist das Bild des Gotthard-Reduits als intellektuell-tiefergelegte und zeitgleich mythologisch-überhöhte Brutstätte des Wahnsinns, die sich derweil nach außen als helvetische Musteranstalt verkauft. Der Gotthard: Eine Art nationale Mutter, wenn auch eine künstliche.Hermann Burger also: Sein Wolfram Schöllkopf sucht ihn ebenfalls, diesen „Granitschoß der Helvetia“. Der Herr ist Schweizer, mithin Identitätssucher, war Privatdozent für neuere deutsche Literatur an der ETU Zürich, hat eine Herzattacke hinter sich, die ihn vor dem Selbstmord rettete, kriegt aber, „gekrümmt um den zentralen Penisschmerz“, einfach keinen hoch. „Unterleibsmigräne“ nennt er sein Leiden, das ihn seit der Kindheit, in der ihm jede Mutterliebe versagt blieb und der körperliche Ausdruck von Liebe unter Strafe gestellt war, verfolgt. Abhilfe verspricht ihm die Therapie der „Künstlichen Mutter“, die Versenkung in den Gotthardstollen zur Heilluftinhalation in der unterirdischen und obendrein noch „euterwarmen“ Heilklinik des „Genitalchirurgen“ Auer-Aplanalp.Schöllkopf macht sich also auf die Reise ins „Weisheitszahnwurzelgebiet“ der Schweiz, um unter Tage sein Gemächt zu heilen. Aber was da, im und um den heiligen helvetischen Schacht, tatsächlich los ist, hätte selbst Goethes Glauben an die „festen Böden der Urwelt“ erschüttert. Von landschaftlicher Idylle keine Spur, die „Kumulusverstocktheit permanenter Hageldämmerung“ macht dem Germanisten schon nach wenigen Tagen zu schaffen, die vom Eisen- und Autobahnfortschritt paralysierten Urner können nicht kochen , entweihen den Altar der Dorfkirche und vergingen sich in ihrer Freizeit einmal zu oft an künstlichen Müttern in Form von Stroh-Mist-Puppen. Der Leibhaftige ist ihr kurligster Kurgast und die Therapie, eingeleitet durch eine „Mamamnese“, gefolgt von einem Behandlungsmix aus Penetration mit Ozon, Radon – gern genossen bei geöffneten Fenstern im SBB-Speisewagen auf der Tunnelstrecke zwischen Amsteg und Biasca –, innerer Gotthardwärme, antiker (Aischylos) sowie deutscher (Faust II) Literatur, entpuppt sich, oha!, als Scharlatanerie – der „Heiler“ Auer-Aplanalp zu allem Überfluss als Frau.Hermann Burgers Geschichte um den „impotenten Omnipatienten“ Schöllkopf, der sich – als Ex-Militär – in einer Enklave beispiellos-karikaturistischen Wahnsinns, in die deutsche TV-Legende Dagmar Dom aka Dagmar Berghoff verliebt, ist nicht nur die humorigste und sprachverliebteste Generalabrechnung mit der ruralen Bilderbuch- und Bunkerschweiz, sondern gleichzeitig eines der anspruchsvollsten Werke des jüngeren Schweizer Literaturschaffens, mithin ein moderner Klassiker.Förderer Marcel Reich-RanickiDass Die Künstliche Mutter auf einen breitenwirksamen Durchbruch bis heute wartet, erklärt sich am ehesten damit, dass sich der Roman wie ein manischer und respektloser Schwall über seine Leser ergießt, alles Unbefestigte mitreißt und keinen (Teufels-)Stein auf dem anderen lassen kann. Die Kadenz der philosophisch und germanistisch imprägnierten Lachsalven und Juxraketen, die Burger ungeniert auf knapp 300 Seiten zündet, ließe jeden Innerschweizer Waffenplatz an einem 1. August alt aussehen und ist weit über die Eidgenossenschaft hinaus unerreicht.„Das Artistische war sein Element“, schrieb Marcel Reich-Ranicki über den Autor, der zur Buchmesse in Frankfurt mit dem Sturmgewehr auftauchte und demonstrativ mit seinem roten Ferrari durch die Provinz rauschte – lang bevor die Performance zum Standardrepertoire aufmerksamkeitsversessener Schriftsteller wurde. Eine dauerbrennende Ausnahme-erscheinung war dieser Hermann Burger, im Öffentlichen wie im Privaten. Reich-Ranicki, sein größter Förderer, fand die Korrelation nur logisch: „Literatur, die zählt, schreiben immer nur jene, auf die man sich nicht verlassen kann: Sie sind, anders als die Ordentlichen und Mittelmäßigen, unberechenbar.“ Und ja, tatsächlich: Wo Burger draufsteht, ist dann auch ein gerüttelt Maß Clown und Pyromane drin. „Hätte man mich […] die Welt erschaffen lassen, ich hätte sie von Anfang an als Circus erschaffen und hätte die Menschheit nur vorstellungsweise in die Menagerie der Normalität entlassen“, schrieb der „Zauberer“ Burger, wie Kollegen ihn nannten, in Das Circensische und ich.Die Manege der künstlichen Mutter schließt sich nach Schöllkopfs Tunnel-Odyssee im Süden, wo der Gotthard den Germanisten nach einer wilden Lorenfahrt endlich wieder ausspuckt: im Tessin. Der nicht stollen-, sondern liebesgeheilte Schöllkopf erlebt hier einen literarischen Schaffensrausch, der den Autor quasi nebenbei gleich mit verschluckt. Dass sich sein finaler künstlerischer Orgasmus gerade vor Hermann „Klingsor“ Hesses Haustür zuträgt, der hier ebenfalls nach allen Regeln der Kunst zechte und seine verschiedenen Ichs nobelpreislich auf Papier bannte, dürfte kein Zufall sein.Konservatismus und MythosÜberhaupt: Wenig ist Zufall in dieser beinahe popliterarisch-archivistisch anmutenden Heimatvernichtungskaskade Burgers. Mögeb seine Sprachverliebtheit und seine Lust an der Provokation auch einmal mit ihm durchgegangen sein: Der Aargauer Schriftsteller, der unter Depressionen litt, sich seinen Ferrari zu Heilungszwecken nach gescheiterten Therapien (unter anderen in einer österreichischen Stollenklinik) zulegte und sich doch am 28. Februar 1989 selbst das Leben nahm, ist Einzigart. Das gilt auch und insbesondere für Die Künstliche Mutter: Während die Auseinandersetzung mit den helvetischen Dauerthemen Identität, Heimat, Männlichkeit, Konservatismus und Mythos bei den „großen“ Kollegen Dürrenmatt und Frisch eher dozierend – und längerfristig etwas muffig – daherkam (bis auf den Winterkrieg), finden wir hier einen, der nicht nur grandiose Satzbauten mit infantiler Leichtigkeit zusammenzimmerte, sondern auch immer wieder über sich, seine und vor allem über die Themen des Landes lachen mochte. Sein kalauernder, aber hochgeistreicher Spott mag vor allem in Zeiten bereichern, da sich die Schweizer Gegenwartsliteratur am Mittelmaß orientiert und eine Mehrheit der Schweizer die Doktrin des „Maßhaltens“ politisch gegen Außen wendet – sich also in die Höhle zurückzieht. Der betont maßlose, gänzlich apolitische und unberechenbare Hermann Burger wird da zum segensreichen Antidot.
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