A
Augsburg Klar, wir fahren mit der Bahn zu Weihnacht und Verwandtschaft im Süden: Seit es die Schnellstrecke Berlin–München gibt, geht das viel zügiger. Würde ich uns ein Auto leihen, wäre mir ein siebenstündiger Horrortrip über die A9 sicher; bis zur ersten „Mir ist schlecht“-Klage der Rest-Familie würde es keine Viertelstunde dauern. Dennoch empfinde ich Wehmut: Die A9, dann die B2 gen Augsburg, war meine ➝ Chris-Rea-Strecke.
All die Mitfahrgelegenheiten mit all den Heimreisenden, all die Drogenkontrollen auf dem Rastplatz Frankenwald, kurz hinter Thüringen, frisch in Bayern. Vor allem eine Fahrt im Auto des Freundes, der in Halle (Saale) studierte: Dort kaum auf die spiegelglatte A9 gefahren, standen wir im Stau – und im Schneetreiben jener Nacht, was das Vorfreude-Gefühl um ein paar Stunden verlängerte: auf den Baum, auf die Omas, auf den Stehplatz und die Siegeshymne zur Kling, Glöckchen, klingelingeling-Melodie im Eishockeystadion. „It’s gonna take some time but I’ll get there“: Ich liebe diesen Song. Ich stehe dazu. Sebastian Puschner
C
Chris Rea „I’m driving home for Christmas / Oh, I can’t wait to see those face / I’m driving home for Christmas, yeah / Well I’m moving down that line / And it’s been so long / But I will be there.“ Es hat ein paar Jahre gedauert, bis sich Chris Reas Driving Home for Christmas, erschienen im November 1986, zum veritablen Weihnachts-Pop-Klassiker mausern konnte. Die Idee zu dem Song hatte Rea schon 1978, als er zusammen mit seiner Frau in einem vorweihnachtlichen Londoner Verkehrsstau feststeckte (➝ Augsburg) – und spontan anfing, das Lied in seiner Rohfassung zu trällern.
Was wir in diesen Tagen (ein wenig zu oft) im Radio hören, ist meistens eine Wiederveröffentlichung des Songs von 2009, die inzwischen jedes Jahr zur Weihnachtszeit erneut in die Charts einsteigt. Coverversionen des Songs gibt es jede Menge – die schönste ist jene von Saint Etienne, aber Kenner des modernen Weihnachtsklassikers schätzen auch die Version des unverwüstlichen Engelbert Humperdinck. Marc Peschke
F
Flucht gehört zu den traumatischen Erlebnissen, die Menschen, welche sie durchlebten, in schmerzlicher Erinnerung bleiben. Die Hoffnung auf Sicherheit und Zukunft kann nach der Ankunft am sicheren Ort vielleicht heilen. Wenn aber per Gesetz die Heimreise verfügt und vollstreckt wird, stürzt das in neue Ängste. „Abschiebung“ und „Rückkehr“ sind die technischen Begriffe für das Bringen von Menschen an jene Orte, denen sie entkommen wollten. Abflug und Ankunft werden zu einem Horrortrip. Eine Reportage über Rückkehrer nach Afghanistan machte dies deutlich: Diese Heimreisen sind bitter, oft gefährlich und mit „Schande“ beladen. Neue Verfolgungen drohen, familiäre Bindungen sind zerstört. Oft sind sie Ausgestoßene. Das fördert die Radikalisierung. In Afghanistan schließen sich Rückkehrer den Taliban an. Sie wollen überleben. Magda Geisler
H
Heimat „Von allen Bergen schaue ich aus nach Vater- und Mutterländern. Aber Heimat fand ich nirgends“, heißt es in Nietzsches Zarathustra. Es ist so ein Ding mit dem Linkssein und der Heimat. Man will sie nicht brauchen, doch ist sie da, macht das etwas mit einem. Früher oder später
Nach 23 Jahren selten unterbrochener Sesshaftigkeit war ich froh, aus meinem Geburtsort wegzuziehen. Klein und eng kam mir die Halbmillionenstadt vor. Ich kannte „jeden Pflasterstein beim Namen“, wie ich peinlich pseudoliterarisch bekundete, traf in Kneipen, Clubs, Parks, Supermärkten solche, die ich gern treffe, und solche, die ich nie wieder treffen will. Am liebsten war mir der Ort im Rückspiegel und der ganze Schaum einer Jugendlichkeit weit weg. Nun stellt mir die Heimat manchmal nach, holt mich ein, gerade zu Weihnachten. Eigentlich nicht so übel hier, wo wir immer waren. Und schau mal, „da war früher ...“ – jener Satzanfang, den ich bei den Älteren hasste. Wen interessiert, was da früher war? Mich interessiert es, heute. Es ist leicht, der Heimat gegenüber verächtlich zu sein, wenn sie noch da ist. Konstantin Nowotny
I
Iran Ganze 20 Jahre hat es gedauert, bis ich mein Geburtsland wiedersehen konnte. Vorfreude und Aufregung waren groß, die Erwartungen hoch. Mein Vater und ich flogen ab. Es war ein warmer Herbst. Dann eine bis dahin ungewohnte, ambivalente Erfahrung: In Iranisch-Aserbaidschan, wo ich geboren bin, lief ich während des gesamten Aufenthalts halb als Einheimischer, halb als Tourist durch die Straßen der Städte und begegnete Menschen und Orten (wieder). Die neuen Eindrücke prallten beständig auf die alten Erinnerungen und Bilder, die sich mir als Fünfjährigem vor der Ausreise noch eingebrannt hatten.
Wie viel ist hier überhaupt noch „Heimreise“, wie viel davon erste Erkundung zu nennen? Für die Älteren waren wir noch präsent. Die Jüngeren dagegen konnten mit uns nicht viel anfangen. In mir entstand das Gefühl, eine Lücke hinterlassen zu haben und aus der Zeit gefallen zu sein. Aus einem Land zu kommen, das es so überhaupt nicht mehr gibt (➝ Nichts). Die Ernüchterung nach der Rückkehr nach Deutschland war groß – die Sehnsucht nach jener „verlorenen Zeit“ blieb eingekapselt in mir. Auch nach einer zweiten Reise. Es blieb das Gefühl, etwas Versäumtes unbedingt nachholen zu müssen. Behrang Samsami
L
Literatur Was haben Bernhard Schlink, Thomas Hürlimann und Franz Kafka gemeinsam? Alle drei haben unterm Titel Heimkehr veröffentlicht. Bei dem einen sucht der Protagonist nach seinem früheren Leben, der andere zeigt eine Irrfahrt durch die deutsche Geschichte. Und die Parabel des Dritten lässt den Heimkehrer auf halber Strecke vorm Übervater zurückschrecken. Seit der Odyssee zieht sich das Motiv Heimkehr durch die Literaturgeschichte. Die Abenteuersuche der Ritterepen wird nur verständlich, wenn diese in der Rückkehr endet. Crusoes Robinsonade wäre nur halb so spannend, wenn er bis zum Tod auf der Insel verblieben wäre. Hin und zurück fasst der Untertitel der Fantasy-Wanderung Der Hobbit das Prinzip kompakt zusammen.
Grundlegend ist dabei die Erfahrung des und Konfrontation mit dem Fremden. Der Heimkehrer kann sie nach Hause bringen, die Dagebliebenen damit bereichern oder frösteln lassen. Ist mit dem Motiv auch die Idealisierung von ➝ Heimat verbunden, eröffnet der Weg in die Ferne die Romantisierung des Nahen, bis hin zur Blut-und-Boden-Ideologie: „Heim ins Reich“ bedeutet das in der Konsequenz. Möglich ist auch, dass der Wiederkehrende im Vertrauten plötzlich das Fremde erfährt. Denn auch jenes hat sich verändert – so wie er. Tobias Prüwer
N
Nichts „Zusammen kuscheln ist sehr wichtig!“, betont mein Teilzeitchauffeur. Er lasse sich bis heute gerne von seinen Eltern herzen. Seine Kinder umarme er so oft es ginge voller Liebe. Anerkennend nicke ich, angestrengt lächle ich. „Weihnachten ohne Kuscheln, nicht gut“, konstatiert er. Ich sitze im Fond der Limousine, mit der wir zwischen den Hochhäusern entlanggleiten und fühle mich schon fast wie Ebenezer Scrooge. aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Wann kommen wohl die Geister, die ich nicht rief? Ich lasse meine abgedunkelte Fensterscheibe etwas herunter – Frischluft.
Weihnachten ist eine Zeit, die die Frage nach dem Woher und Wohin-zurück so laut stellt, dass es für alle die schwierig wird, für die es zwar ein Woher, aber kein heimatliches Wohin mehr gibt. Wenn die Eltern tot sind oder die Familie toxisch ist. Da beginnt diplomatisches Rutschparkett allererster Absturzgüte. Wenn man sich erklärt, bedeutet es: Man muss sich selbst und noch sein Gegenüber trösten. So lasse ich das Thema verhallen, doch mein Fahrer fragt: „Alles okay?“ „Jaja“, beeile ich mich zu sagen, „lediglich Zugluft.“ Ich schließe das Fenster, mein Gesicht verdunkelt sich. Jan C. Behmann
O
Odenwald Rund um den 50. Todestag Theodor W. Adornos konnte man das Leben dieses Ausnahmegelehrten in den buntesten Facetten kennenlernen. Im Deutschlandfunk Kultur lief eine Sendung über ein kleines Dorf im Odenwald: Amorbach. Hier verbrachte die Familie Wiesengrund Anfang des 20. Jahrhunderts jede Sommerfrische. Der Ort blieb für „Teddie“ von großer Bedeutung: „Es gehört für mich zu den schönsten Erfahrungen, dass ich in Amorbach, dem einzigen Ort auf diesem fragwürdigen Planeten, in dem ich mich im Grunde zu Hause fühle, nicht vergessen worden bin“, schrieb er 1968 in einem Brief.
Für Adorno war der Kindheitsverlust eine Art Urkatastrophe. Auf die Frage, warum er nach dem Krieg zurückkehrte, antwortete er: „Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, dass, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen.“ Das ist kein simples Zurück, sondern die dialektische Aufhebung, die zum Glück führen soll. Die Hoffnung auf dieses Glück drückt sich aus, wenn er in der Minima Moralia schreibt: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellen.“ Leander F. Badura
V
Veteranen Kriegsheimkehrer werden mitunter nicht mit offenen Armen empfangen, was nur teilweise an posttraumatischen Belastungsstörungen liegt. So trafen die Veteranen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Kriegsgefangenenlagern zurückkehrten, oft auf Familien, die sie nicht mehr verstanden. Sie waren teils tot geglaubt. Für ihre Lieben ging das Leben weiter, während sie weg waren.
Kinder sahen zum ersten Mal ihre Väter, die Frauen waren aus der Not heraus emanzipierter als vor Kriegsausbruch. Noch schwieriger war die Situation für Exilanten. Die meisten Rückkehrwilligen hatten das Land aus politischen Gründen verlassen – Juden, die dem Ermordetwerden durch Deutsche entkamen, waren dazu weniger bereit. Den Heimkehrern schlug Skepsis entgegen. Man scholt sie als „Vaterlandsverräter“, aus überdauerter Ideologie wie auch aus Neid, dass sie den Krieg anders erlebt hatten. Denn die Heimkehrer waren ein Stachel im Gewissen der Dagebliebenen. Sie mahnten allein mit ihrer Anwesenheit die Selbstprüfung an: Warum bin ich nicht auch gegangen? Tobias Prüwer
Z
Zürich Ein Aufenthalt in Zürich, eine fast surreale Erfahrung der Abgehobenheit. Umgeben von zwei hügelartigen Bergen, am Kopf eines Sees gelegen, mutet die blitzblanke Stadt der Realität entrückt an; wenigstens der Realität eines aus der Berliner Schmuddelecke kommenden Heimkehrers. Mehr wie ein Erlebnispark, oder der Pavillon eines Landes bei einer Messe. Wer möchte, kann in der Altstadt Zeitkolorit des Mittelalters abbekommen, wer es eher modern mag, einen, wenn auch etwas miefigen, Futurismus im ehemaligen Industrieviertel auf sich wirken lassen. Der Ort wirkt wie ein Modell im Format 1:1. Aus der Straßenbahn heraus gesehen, erscheinen die Passanten draußen als Komparsen, die den Eindruck von Belebtheit hervorrufen; oder sind es bereits Automaten? Marc Ottiker
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