Kann eine Alltagsgeschichte, die mehr als hundertfünfzig Jahre alt ist, für ein Kinopublikum von heute überhaupt noch relevant sein? Die Verfilmung eines Romans aus dem 19. Jahrhundert – das klingt nicht gerade nach einem Großereignis für die Multiplexe. Andererseits können Literaturverfilmungen stets auf ein gewisses Stammpublikum zählen. Jedoch spielt die Umsetzung, das Wie der Inszenierung, eine wichtige Rolle.
Louisa May Alcotts Erfolgsroman Little Women aus dem Jahr 1868, der lose auf der Kindheit der Autorin in Concord, Massachusetts, beruht, ist bereits einige Male adaptiert worden, fürs Theater, fürs Kino, als Serie und als Anime. Der Roman beinhaltet einen etwas altmodischen Frauenstoff: Er erzählt von einer Mutter und ihren v
Mutter und ihren vier Töchtern, die auf die Rückkehr des Vaters aus dem US-amerikanischen Bürgerkrieg warten. Es ist aber – und das mag die Popularität des Romans bis heute erklären – vor allem auch eine Coming-of-Age-Geschichte, die Frauen zentral setzt. Die vier Schwestern March wachsen als Individuen mit eigenen Träumen und Zielen auf, die weit über das der perfekten Hausfrau hinausgehen. Obendrein sind Alcotts Dialoge ungekünstelt und zugänglich, sodass sie ohne Weiteres auch das heutige Publikum ansprechen.Dass Greta Gerwigs Verfilmung in sechs Kategorien (Film, Drehbuch, Kostüm, Nebendarstellerin, Hauptdarstellerin und Musik) für einen Oscar nominiert wurde, erscheint einerseits als Indiz für die anhaltende Beliebtheit des Stoffs. Dass Gerwig selbst – im Unterschied zu 2018, als man sie für Lady Bird auch als Regisseurin nominierte – diesmal übergangen wurde, zeigt indirekt, wie aktuell sein Thema, die Schwierigkeit, sich als Frau zu verwirklichen, noch immer ist. Die Entscheidung der Academy – im Fach Regie sind erneut nur Männer nominiert – wurde zwar hart kritisiert, brachte aber auch alte Vorurteile zurück, nach denen Filme mit zentralen Frauenfiguren bei Männern eben weniger ankommen.Traurig, ein Mädchen zu seinGerwigs Version ist zugleich Verneigung vor dem Originalstoff als auch entschiedene Neuinterpretation. Einen der offensichtlichsten Eingriffe vollzieht sie gleich zu Beginn: Statt als Jugendliche im Kreise ihrer Schwestern im provinziellen Massachusetts wird Jo March (Saoirse Ronan) dem Zuschauer als selbstständige junge Frau in New York vorgestellt, und zwar bei einer eher unangenehmen Erfindung der modernen Welt: dem Bewerbungsgespräch.Mit tintenbefleckten Fingern steht Jo vor der Tür einer New Yorker Zeitung und muss erst Mut fassen, bevor sie hineingeht. Dann erlebt sie mit Entsetzen, wie der Verleger Mr. Dashwood (Tracy Letts) aus ihrem eingereichten Manuskript ganze Seiten einfach wegstreicht. Gleichzeitig belehrt er Jo über die Vorlieben der Leserschaft: Frauenfiguren sollten in der Literatur am Ende prinzipiell entweder verheiratet oder tot sein, nur eins von beiden.Später auf der Straße legt die junge Frau die Demütigung schnell ab. Sie ist fürs Schreiben bezahlt worden! Gerwig beginnt ihren Film also mit einer Problemstellung, die bis heute besteht und sie als Regisseurin einschließt: künstlerische Freiheit gegen ökonomische Interessen. Geht es Dashwood doch auch darum: „Was verkauft sich?“ Kompromisse gehören dazu, nur wann werden sie unerträglich für das Verständnis der eigenen Arbeit? Und wann nutzen Arbeitgeber ihre Machtposition aus? Das sind im Übrigen alles andere als reine „Frauenprobleme“.Dennoch ist die Hauptfigur Jo vorrangig natürlich eine Identitätsfigur für Leserinnen. „Ich kann nicht über die Enttäuschung hinwegkommen, ein Mädchen zu sein“, sagt Jo sowohl im Buch als auch im Film. Feministisch im heutigen Sinne ist das nicht. Aber in ihrer Zeit steht der Gedanke für Rebellion.Jos Aufwachsen wird im Film in Rückblenden erzählt, aus der Perspektive einer Erwachsenen. So entsteht eine neue Verbindung zwischen jüngerem und älterem Ich; mehr noch als im Roman ist Jo bei Gerwig die Autorin ihrer eigenen Story.Was Gerwig mit dem Stoff macht, wird vor allem im Vergleich zur populären Little-Women-Verfilmung von 1994 von Gillian Armstrong mit Winona Ryder in der Hauptrolle deutlich. Es gibt viele formale Unterschiede: Wo etwa Armstrong die Erzählstimme klassisch als ordnendes Voice-over verwendet, lässt Gerwig die Schwestern Amy (Florence Pugh), Meg (Emma Watson), Beth (Eliza Scanlen) und Jo oft absichtlich durcheinandersprechen. Sie betont damit die große Vitalität der Frauen, ihre rastlose kreative Energie. In Armstrongs Film dominiert dunkles, kaltes Licht, um Armut und Nachkriegszeit abzubilden. Gerwigs Film dagegen ist geprägt von warmen Tönen und Momenten glücklicher Gemeinschaft und Solidarität.Noch interessanter aber sind Gerwigs Veränderungen bei den Figuren: Jos eitle Schwester Amy und Jos späterer Ehemann, Professor Friedrich Bhaer (Louis Garrel). Bei Armstrong ist Nesthäkchen Amy die egoistische Intrigantin, die die Sympathie des Publikums recht früh verspielt. Bei Gerwig bekommt sie eine neue Chance. Florence Pughs Amy ist zwar selbstbezogen, aber auf ihre Art wie Jo eine Macherin: „Ich will großartig sein oder nichts!“ Als sie ihre künstlerischen Ambitionen nicht verwirklichen kann, lenkt sie alle Kraft darauf, einen reichen Ehemann zu finden. Noch 1994 wird das als Entscheidung für die Konvention dargestellt. Gerwig aber macht daraus einen Akt der Selbstbestimmung, indem sie Amy den Platz zugesteht, zu erklären, dass die Liebe im Plan zum ökonomischen Aufstieg ein legitimes Mittel sei, mit dem man nur richtig umgehen müsse. Dementsprechend wird sie in Gerwigs Fassung auch nicht vom reichen Nachbarsjungen Laurie „wiederentdeckt“, sondern sie ist es, die ihn auf ihrer Europatour als Passanten sieht und anspricht.Friedrich, der Mann, den Jo am Ende heiratet, ist bei Alcott ein älterer Professor. Gerwig besetzt ihn mit Garrel und macht ihn so zum eher ebenbürtigen Partner – und Kritiker ihrer Werke. Die Freiheit der neuen Jo besteht darin, in der Auseinandersetzung mit ihm auch unfair zu sein. So lehnt Friedrich Jos Geschichten ab, weil sie seiner Meinung nach nicht ihrer Persönlichkeit entsprechen. Statt den Einwand brav als Kompliment und Anregung anzunehmen, reagiert Jo mit Trotz und Widerstand. Ihre Emanzipation zeigt sich bei Gerwig darin, dass sie schließlich selbst zum Verleger geht, die Konditionen der Veröffentlichung aushandelt und schließlich ihr Buch abholt – in der originalgetreueren Adaption von 1994 lässt sie es sich noch von Friedrich schicken. In diesem Sinn ist es egal, ob Gerwig für Little Women einen Oscar gewinnt – sie hat einen Film zu ihren Bedingungen und nach ihren Ideen gedreht.Placeholder infobox-1