Helden, auch wir

Sportplatz Velodrom Berlin. Sechstagerennen. Sonntag ist´s, Familientag. Man muss das gesehen haben, 10.000 jubelnde Berliner auf den Rängen, im Duft von ...

Velodrom Berlin. Sechstagerennen. Sonntag ist´s, Familientag. Man muss das gesehen haben, 10.000 jubelnde Berliner auf den Rängen, im Duft von mindestens 20.000 verkauften Bratwürsten. In der Mitte der ovalen Bahn ist ein Jahrmarkt aufgebaut mit Kinderkarussell und Lebkuchenherzverkauf. Bands spielen, die Puhdys waren da und Frank Zander auch, das Publikum singt »Olé, Olé, Olé« und skandiert mit umgehängten Trillerpfeifen den Vierteltakt zum Sportpalast-Walzer. Gute Stimmung wäre untertrieben, das ist Spitze hier, das ist fröhliche Reizüberflutung galaktischen Ausmaßes, ein Volksfest ganz nach Berliner Art.

Nicht leicht zu durchschauen ist, was die Gladiatoren da auf der Bahn veranstalten, die Vielfalt der Wettkampfdisziplinen scheint etwas mit der nicht unerheblichen Zahl der Sponsoren zu tun zu haben - Große Schultheiß-Jagd, Sprinter Cup Getränke Hoffmann, Ausscheidungsfahren Hellweg Profibaumärkte, um nur einige zu nennen. Früher, also 1899, als alles in New York begann und es noch nicht wirklich Autos gab, radelten die Kerle wirklich 145 Stunden lang, heute fahren sie fünf späte Abende und einen Sonntagnachmittag, die Dauer der einzelnen Rennen gleicht der Länge einer Vorabendserie bis zur ersten Werbepause. Die Meister-Radler sehen dennoch recht ramponiert aus, weil sie von einem Sechstagehype zum nächsten touren und permanent wieder für irgendetwas neues auf die Bahn rollen. Bewag-Rennen, Punktefahren des Berliner Kurier, Ausscheidungsfahren des Autohaus Rhinstraße. Alle halbe Stunde eine Siegerehrung mitten auf der Bahn, Foto, Tusch und Palast-Walzer mit Trillerpfeife.

Flott und spannend ist das, keine Frage. Mal müssen die kleinen 13-Jährigen ran und es scheidet in jeder Runde der jeweils Letzte aus, wir leiden mit. Von nervenaufreibend elegantem Timing ist die »Schleuderablösung« im Zweierteam, wobei ein Fahrer in voller Fahrt den Partner an der Hand fasst und mit dem eigenen Schwung nach vorne zieht. Die beiden müssen sich nicht einmal gut leiden können, wie der Tagesspiegel über Weltmeister Stefan Steinweg und seinen Kollegen Marc Altmann verrät, es klappt trotzdem. Und das ganze bei Verfolgungsjagd! Vorne reißen Fahrer aus und versuchen die anderen von hinten wieder einzuholen zwecks Runden- und Punktgewinn. Enorm dramatisch wird das, sobald man einmal begriffen hat, wer vorne und wer hinten ist, was sich nicht leicht unterscheiden lässt bei einer runden Bahn.

Hübsch und vor allem laut sind Derny-Cup und »Steherrennen«, bei dem nicht der Radler steht, sondern ein Motorradfahrer vor ihm, der - gesponsert vor einem erdölverarbeitenden Unternehmen - für Windschatten sorgt. Tja, wenn wir auch mal so ohne Bremsen und Gangschaltung, wunderbar regen- und windgeschützt, auf glattestem sibirischen Fichtenholzparkett morgens durch den Straßenverkehr zur Arbeit rasen könnten - das wär was. Tusch, Sportpalast Walzer und pfiff, pfiff, pfiff, pfiff.

Egon Erwin Kisch nannte das Sechstagerennen ganz physisch »Karussell des Teufels«. Die intellektuelle Grundleistung jedoch, die wir beim Hallenrennen aufbringen müssen, besteht letztlich darin zu verstehen, wie bei all dem Trubel trotzdem eine Art Gesamtwertung zustande kommt, warum so viele Mopeds auf dem Bahn herumrasen und warum auch noch Autos in der Mitte der Halle aufgestellt sind. Es geht, ergo, darum zu begreifen, dass Radsport mit dem Veloziped so wenig zu tun hat wie Bahnradsport mit der DB.

»Es erinnert mich eher an Catchen«, sagt meine Begleiterin. Und wir treten hinaus aus der Betonwüste, die sich Berlin-Arena nennt, und steigen - als einzige an diesem Ort - dick vermummt im grauen Winternieselregen auf unsere Bikes, wir, ach wir AllwetterradlerInnen, die wahren, die unerkannten, die einzig wirklichen Helden des Pedalantriebs.

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