A
A [A, Am (2x), G, C, open F, A]: „Ein Schaukelstuhl, mit Blick aufs Meer. Die Karaffe für den Wein vor mir ist leer. Wenn die Sonne scheint, bleib ich im Haus. Es ist bewölkt, dann geh ich raus. / In den Tag hinein. / Füße vertreten am verlebten Strand, ist nichts mehr los hier, so aus dem Stand. / Vielleicht im Dorf ins Kino gehn? Hab da nie mehr als sieben Leute gesehen. / Müssen wohl Liebhaber sein. Setz mich ins alte vertraute Dunkel hinein. / Danach die Zeitung und ein Kaffee, da draußen ist immer was los, irrer Tresen, an dem ich da steh. / Sehe die Führer für irgendwas werben. Sie stimmen die Jungen ein, aufs große Sterben. / Bin nicht mehr jung, weiß nichts von einem Kampf. Nur dass sie den Fluss runterfahren, in den Kesseln zu viel Dampf.
Stand schon am Bahnhof und wartete auf einen Zug. Früher ging ich in die Straßen, jetzt vergeht das Warten im Flug. / Die Tage sind lang, doch die Zeit wird knapp. Schaue schaudernd zurück – viele machten seither schlapp. / Erinnerungen, wie Schnipsel in Winden, tauchen auf und verschwinden … Hab genug davon, brauch keine neuen, kann mich über den schläfrigen Hund da im Schatten freuen.“ Marc Ottiker, Mo & kAPELLE
Abschied Abschied, das nachbebende (➝ Zittern) Wort, das jeder herbstlichen Lyrik innewohnt, es findet sich auch in Christine Langers poetischem Vademecum Körperalphabet (Klöpfer & Meyer 2018). Nur wenige Bilder vermitteln, dass man den Zeitpunkt, noch einmal umzukehren oder zu bleiben, verpasst hat: Ein Zug fährt ab, „Metallfunken durchtrennen / Einen Händedruck“ und „Tauben picken / Die Asche deiner Worte“. Auf einmal vernimmt man im Wind nur noch ein Passé von einem, der gegangen ist. „Die“, so endet das kurze Poem, „Widerrede auf dem Asphalt / Kommt zu spät.“
Dass die Schwermut jedoch nicht nur auf einen Abgrund hinweist, zeigt auch dieser zarte Text. Denn obgleich sie im Leben oftmals unerträglich sein mag, versteht sie sich als Stimulans für das künstlerische Schaffen. Herbsttage sind daher immer auch Musentage. Björn Hayer
C
Corona Kein Herbstanfang ohne den Gedanken an die ersten dunklen Verse aus Paul Celans Gedicht Corona: „Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde. / Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn: / die Zeit kehrt zurück in die Schale.“ Das Gedicht endet mit einer Anspielung auf Rilkes Herbsttag – „Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, / daß der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, daß es Zeit wird. / Es ist Zeit.“
Gewiss ist Corona eines der bekanntesten Gedichte des herbstgeborenen Melancholikers Celan (➝ Verlaine, Paul), noch durchsetzt von den Genitivmetaphern, ein Gedicht, dem ein ganzer Band den Titel verdankt: Mohn und Gedächtnis (1952), eines, in dem das traditionelle Bildinventar der Natur- und Liebeslyrik sich mit der so surrealen wie wünschenswerten Vorstellung verbindet, dass der Stein sich zu blühen bequeme, dass etwas Anorganisches zu etwas Lebendigem werde. Diese Vorstellung will gar nicht zum Herbst passen, aber in Liebe und Lyrik ist nichts nicht denkbar – umso mehr in diesem Herbst, der ja im Grunde noch immer ein Sommer ist. Beate Tröger
H
Hölderlin Mit ihm erreichte das Herbstgedicht seinen Höhepunkt, jaha. Weil er den kleinen Tod, den der Herbst bedeutet, wie kein anderer verstand. Mit knackig roten Hagebutten gaukelt er Sommer vor, wo Winter bereits lauert, Herz und Hirn zu frosten. In Hälfte des Lebens tunken die Schwäne noch liebestrunken die Hälse ins Wasser, das die üppig orangen Früchte spiegelt, während bereits der eiskalte Wind aufzieht. Da, in der Lücke zwischen Vers 7 und 8, tut sich die unendliche Leere des Winters auf, als wäre etwas Substanzielles geschehen in der Atempause zwischen „Wasser“ und „Weh“. Die Fahnen klirren, Zähne klappern, Finger frösteln. Todtrauriger machte ein Gedicht nie. Marlen Hobrack
L
Leggins Deutschland im Herbst betitelte Wiglaf Droste kürzlich ein schönes Gedicht. Aber nicht um betörende Herbstlyrik geht es hier und nicht ums Politische, sondern alltagsprofan und doch melancholisch gestimmt sind Frauenbeine das Sujet. Frauenbeine in kühlerer Zeit, die nun durch Leggins bedeckt werden; Schenkel, die im Sommer noch freizügig sich gaben: „Herr, es ist hohe Zeit“, könnte man im Rilke-Ton säuseln. Nicht so Droste, der gut reimend mit Sehnsucht spottet: „Oh, es hebt an ein großes Weh und Klagen: Der Sommer ist vorbei. Ihm folgt die Zeit, da Frauen Leggins tragen.“ Was aber bleibt, stiftet der Winter. Und blickdichte Strumpfhosen. Lars Hartmann
M
Meerbaum-Eisinger, Selma „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“, heißt es in einem der bekanntesten Poeme der 1924 in Czernowitz geborenen Dichterin. Was sie begeistert und fasziniert, gießt sie in juveniler Leidenschaft in Verse. Aus Regen, Sonnenstrahlen und bisweilen tiefem Liebeskummer komponiert sie poetische Etüden zwischen Dur und Moll. In jeder Zeile spürt man, dass sich hinter den Worten ein wahrer Schöpfergeist der Stimmungslyrik verbirgt, zu dessen gänzlicher Entfaltung es allerdings nie kommen wird. Mit gerade einmal 18 Jahren verstirbt die Jüdin Selma Meerbaum-Eisinger 1942 in einem Zwangsarbeitslager am Fleckfieber. Wie das ganze Dasein (➝ Hölderin) zum Herbst werden kann – davon zeugen ihre Miniaturen, die in einer unermesslichen Tristesse beständig nach Leben suchen. Einem ihrer letzten Texte mit dem Titel Tragik fügt sie lakonisch bei: „Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu / schreiben“. Björn Hayer
Q
Quitten Wilhelm Buschs Naturgeschichtliches Alphabet für größere Kinder und solche, die es werden wollen bietet zu jedem Buchstaben, X und Y ausgenommen, einen witzig illustrierten Zweizeiler. Zum „Q“ ist Busch auch etwas eingefallen.
Jan Wagners quittenpastete erinnert mich an Busch: „Das Quarz sitzt tief im Berges-Schacht, / Die Quitte stiehlt man bei der Nacht“. Bei Wagner werden die Quitten brav bei Tageslicht im eigenen Garten geerntet, die „ausgebeulten Lampions“ vom Oktober „ins Astwerk“ gehängt, die harschen Quitten (➝ Ribbeck), bei deren Verarbeitung man wild flucht, weil sie gar so hart sind, so hart, wie das „Q“ selten im Alphabet: „die quitte an ihrem baum im / hintersten winkel / meines alphabets“. Und während das Gedicht den Prozess der Quittenverarbeitung schildert, baut der Text eine zweite Ebene auf: Aus den in der Sprachküche verarbeiteten Buchstaben sind Strophen, ist das Gedicht geworden: leuchtend wie Quittengelee in Gläsern im Kellerregal. Beate Tröger
R
Ribbeck von Ribbeck Also, der Ribbeck wusste, dass er bald stirbt. Er denkt, was soll ich nun machen, die armen Kinder, ich habe einen schrecklichen Sohn. Er nahm eine Birne mit ins Grab. Damit später wieder ein Birnbaum wächst und die Kinder Birnen essen können. Die Menschen waren sehr arm zu der Zeit, sie konnten nicht so viel in die Brotbox machen. Das war für sie etwas Besonderes. Wenn sie auf den Friedhof gehen, kommt die Erinnerung an Ribbeck wieder. Das Gedicht ist fröhlich, dann traurig, weil Ribbeck stirbt. Am Schluss so beides. Das Gedicht wurde 1600 geschrieben, nein, warte, ich schau auf Wikipedia. 1889, steht da. Den Birnbaum gibt es wirklich. Beim Schloss-Ribbeck-Restaurant. Eine Stunde null fünf von Berlin. Janek Schmitz (11)
S
Sehnsucht Eichendorffs Herbst ist Sehnsucht romantischster Manier, da war sich schon Thomas Mann sicher. Die wechselnden Perspektiven vom Dichter zur schönen Frau und dann zu den Vögelein, dazu die Stille des schlesischen Waldes, betören den Leser wie das Schicksal des durch das Sehnsuchtsland Italien wandelnden Taugenichts, der dort „buonanulla“ heißt und trotzdem mitnichten zu verwechseln wäre mit einer heutigen Yolo-Figur und Scheiß-drauf-Haltung, denn sonst hieße er wahrscheinlich „nullafacente“. Bei „Eia, meine Blümelein, / (...) / Eia, schlafet, schlafet ein“ ist es dann genug mit der Sehnsucht, man will brüllen: „Ihr Blümelein, glotzt nicht so romantisch!“ Christian Feichtinger
Schule „Willst gelangen Du zum Ziele, / Wohlverdienten Preis gewinnen, / Muß der Schweiß herunter rinnen / Von der Decke bis zur Diele!“ Die Autorin dieser Zeilen tauften die Zeitgenossen spöttisch „schlesischer Schwan“ und „schlesische Nachtigall“: Friederike Kempner (1828 – 1904) engagierte sich zu Lebzeiten in der Krankenpflege und Armenfürsorge. Und sie veröffentlichte neben Streitschriften auch Gedichte (➝ Quitten), die für viel Heiterkeit sorgten und parodiert wurden.
In unserem Unterricht durfte sie daher nicht fehlen – als Beispiel für misslungene und ungewollt komische Lyrik. Unser Deutschlehrer, ein ehemaliger Soldat, der Pfarrer werden wollte, dann aber in der Schule gelandet war, konnte nicht umhin, ihre Gedichte in der Klasse vorzutragen: „Die Poesie, die Poesie, / die Poesie hat immer recht. / Sie ist von höherer Natur, / von übermenschlichem Geschlecht. / Und kränkt ihr sie, und drückt ihr sie, / sie schimpfet nie, sie grollet nie, / sie legt sich in das grüne Moos, / beklagend ihr poetisch Los!“ Behrang Samsami
V
Verlaine, Paul An der semantischen Differenz, über die sich vielleicht Philologen heftig streiten, ob denn die langen Seufzer der Herbstgeige mein Herz (➝ Corona) mit Wehmut schmerzen (blessent) oder aber es mit derselben monotonen Wehmut wiegen (bercent), kann die Bedeutungslosigkeit von Bedeutungen sichtbar gemacht werden. Die Text-Überlieferung des Gedichtes Chanson d’automne lässt zweifeln an der Eindeutigkeit des Verbs, das der Dichter gewählt hatte. Ob die Herbstgeige schmerzt oder wiegt, spielt für das Verstehen keine Rolle, seitdem die BBC die Verse im Juni 1944 als Code für die Landung in der Normandie an die Ortsgruppen des französischen Widerstandes sandte. Bedeutung hin, Bedeutung her, Verlaines Verse belegen, dass Phil Connors zum Murmeltierfest zu Recht einen weiteren Straftag in Punxsutawney durchleben muss, nachdem ihm ein „Was für eine Zeitverschwendung!“ (hysterisches Lachen) entfährt, als die Kollegin Rita ihm von ihrem Studium der französischen Lyrik erzählt. Eva Erdmann
Z
Zittern Mit einem Zittern fällt die Frucht vom Baum, wenn der Herbst anbricht. Zumindest beschrieb es Friedrich Nietzsche so im Deutschen November. Viele wissen nicht, dass der scharfzüngige und manchmal schwermütige Philosoph (➝ Schule) auch für schwülstige Romantiksentenzen zuständig war. „Dies ist der Herbst: der – bricht dir noch das Herz! / Fliege fort! fliege fort!“ Es säuselt der Wind, und die „Sternenblume“ spricht.
Geheimnisvolles deutet sich an, und ein bisschen Hoffnung schwingt bei allem Zittern auch mit. Immerhin bringen Herbst und Nacht Trost für den Menschen, so Nietzsche. Noch ist Zeit zum Handeln, bevor das Ende anbricht. Dann wehe – wie er woanders schrieb –, wenn der Winter naht. „Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein. – / Weh dem, der keine Heimat hat.“ Tobias Prüwer
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