Herd und Schmerz

Kino Auch in seinem neuen Film „Another year“ zeigt Mike Leigh das Leben von ganz normalen Leuten – und bleibt in seiner Nüchternheit weniger tröstlich, als einem lieb ist

Geschichten, die auf den Zyklus der Jahreszeiten getaktet sind, sollten skeptisch stimmen. Das stille Leiden an der Unabänderlichkeit des Seins, das in diesem erzählerischen Mittel anklingt, hat meist etwas schamlos Rührseliges. Mike Leigh hat seinen neuen Film lakonisch Another year genannt, und vermeidet somit schon im Titel jeden Anflug von falscher Sentimentalität. Ein Jahr in zwei Stunden, begleitet von den kleinen Erschütterungen des Alltags, die man mit 60 Jahren Lebenserfahrung gefasst erträgt – viel mehr passiert in Another year eigentlich nicht.

Zwei Konstanten bestimmen das Leben der Eheleute Tom und Gerri: ihr kleiner Gemüsegarten am Rande von London und die regelmäßigen Besuche von Freunden und Sohn Joe, der mit knapp 30 Jahren, zum Leidwesen der Mutter, immer noch keine Freundin hat. Man könnte sagen, dass Tom und Gerri eine routinierte, aber harmonische Ehe führen.

Ihr bescheidenes Altersdomizil fungiert in Another year als eine Art Bollwerk, das der permanenten Belagerung gescheiterter Existenzen Stand halten muss. Gerris Arbeitskollegin Mary ist die traurigste Seele des Films: eine labile Person, die jegliche Kontrolle über ihr Leben verloren hat. Ihre Abende mit Tom und Gerri enden stets im Gästebett der beiden, besoffen von Selbstmitleid. In einem verzweifelten Versuch, ihrer Einsamkeit zu entkommen, macht sie sogar Joe Avancen. Toms alten Freund Ken hat es nicht besser erwischt. Er und Mary haben ein Refugium gefunden, ihr soziales Scheitern relativiert dabei aber auch sehr schön die behagliche Spießigkeit von Toms und Gerris Lebensentwurf. Als einzige sozial funktionale Menschen in ihrem unmittelbaren Freundeskreis können sie sich ihre gelegentliche, freundschaftlich gemeinte Herablassung leisten. Bei Tom und Gerri findet jede arme Seele Gehör.

Das Leben ist nicht süß

Er mache Filme über ganz normale Leute, hat Leigh seine Arbeit einmal beschrieben. Another year ist, mehr noch als der schon am den Grenzen des Depressiven spielende Film All or nothing (2002), die Quintessenz seiner Spülbecken-Ästhetik. Leigh arbeitet grundsätzlich ohne festes Skript. Seine Figuren definieren sich, anders als in den Filmen Ken Loachs, nicht primär über ihre Biografien, sie erfüllen auch keine gesellschaftliche Funktion. Diese Offenheit kommt den Darstellern zugute, die sich ihre Rollen gewissermaßen erst erarbeiten müssen. Leighs Aufrichtigkeit besteht weniger in der Authentizität seiner Milieus, sondern in der Fähigkeit, seine Figuren sprechen zu lassen und ihre Widersprüche zu erdulden.

Darin ähnelt seine Arbeitsweise der von John Cassavetes. Leigh legt großen Wert darauf, wie etwas gesagt wird und nicht so sehr, was. In den besten Momenten befreit er die Gespräche seiner Figuren von dramatischem Ballast, bis nur noch vereinzelte Sätze in der peinigenden Stille nachklingen. Toms Bruder, der sich nach dem Tod seiner Frau in ein inneres Exil verabschiedet hat, ist in seiner Sprachlosigkeit das erschütterndste Zeugnis der Leere, die Leighs Film umschließt.

Toms und Gerris kleine Idylle hat gegen diese Tristesse keine Chance. Leigh begreift das besser als viele Kritiker, die in seinem verzagten Humanismus so etwas wie Trost erkannt haben wollen. Mit einer quälend langen Abblende beschließt er ein weiteres Jahr, doch der verzweifelte letzte Blick Marys legt nahe, dass auch die Zukunft kaum Perspektiven bereit hält.

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