Herr Karwendel sucht die Stille

Der Türsummer zog Herrn Karwendel wie mit einer Saugglocke aus der Kauerhaltung der Nacht. Sein Körper hallte wider vom Rumpeln der Mülltonnen, die ...

Der Türsummer zog Herrn Karwendel wie mit einer Saugglocke aus der Kauerhaltung der Nacht. Sein Körper hallte wider vom Rumpeln der Mülltonnen, die schwere Männer Schwelle für Schwelle aus dem Hinterhof wuchteten. Wenn sie lachten, biss Herr Karwendel die Backenzähne fest aufeinander und sehnte sich nach Stille.

Ohne Abmeldung floh Herr Karwendel in diesem Oktober das Büro, wo Mitarbeiter sitzend feixten und Türme bauten aus frohlockenden Grüßen, die sie in Apparate sprachen. Im gläsernen Vestibül sah er durch Sonja hindurch, die ihm mit einer Packung Kaffeeweißer winkte. Die Fassade, sagte Sonja, werde eingerüstet. Nun, hoffte sie, werde es sauber. Herr Karwendel lauschte. Draußen tauschten Bauarbeiter lauthals Scherze. Herr Karwendel mutmaßte, sie verteilten die Leiden am eigenen Dasein über den Lärm, den sie anderen aufbürdeten. Herr Karwendel wollte nicht teilhaben. Er lief schneller. Sonja stieg in den Fahrstuhl.

Auf dem Gehsteig drückte die Anordnung seiner Ohren Herrn Karwendel in Schieflage. Der Autolärm war schroff und einseitig. Mehrfach wechselte Herr Karwendel die Straßenseite, um im Lot zu bleiben. In der Ferne, dachte Herr Karwendel, fände er ein Schweigen, das seine Sinne zurück in die Balance brächte. Er schloss die Wagentür, ließ das Radio aus und die Lüftung und fuhr zehn Stunden lang aus dem Norden in den Süden, bis der Tank entleert war.

Auf dem Land war die Stadt verstummt. Aber das Land war nicht leise. Hunde bellten nicht nur. Ihr Kläffen überschlug sich und klatschte in Herrn Karwendels Gesicht wie peitschende Regenböen. Abendsonne beschien einen Berg.

Die bewegungslose Kontur raunte Herrn Karwendel ein Versprechen entgegen. Bedächtig stieg er in den Berg. Das Klongeln der Kuhglocken tat dem Wanderer wohl. Die Wurzeln gaben unter dem rhythmischen Tritt der Sohlen ihr dumpfes Echo. Der leichte Regen in den Bäumen erinnerte Herrn Karwendel an feine Damen in der Oper, die mit zwei Fingern auf Handrücken applaudieren.

In der Höhe verschwand das Rascheln verschreckter Rehe. Als die Nadelhölzer aufhörten, kam der Kalk. Herrn Karwendels Schritte rollten über Kiesel. Die Regenjacke rieb. Ihm war, als begleiteten ihn unsichtbare Mäuse. Der Ton trennte den Träger von dem, was ihn umgab. Herr Karwendel befreite sich von Kleidern und Schuhen und warf sie weg. Nun verbanden sich die Geräusche mit dem Gefühlten. Die Stille betäubte die Schmerzen der abgeschabten Sohlen. Einfallende Dunkelheit ließ die Vögel verstummen. Herr Karwendel erklomm mit aufgerissenen Füßen den kantigen Fels zu einer Höhle. Im Innern vermutete er Schutz gegen die schwarze Kälte. Im Felsloch hallten Wassertropfen. Herr Karwendel kroch heraus. Dort stand ein schwarzer Monolith.

Der nackte Herr Karwendel hockte verwundet auf der Ecke des Steins und hörte zu. Da war ein wenig Wind. Langsam verblich das Gurgeln der Luft in seinen Lungen. Er schloss die Lider. Die Lippen öffneten sich zum schmalen Spalt. Er wartete und wurde Ohr. Das linke sah sich umklammert von behaarten Pfoten eines Trolls. Durch die Muschel brummte er in den Körper Herrn Karwendels, wo der Schatz der Stille zu finden sei. Herr Karwendel, ledig, 32, Angestellter, legte den Kopf zurück und streckte blind die Arme nach vorn. Der Troll pustete ihm zum Ansporn lautlos in das Achselhaar hinein. Herr Karwendel konnte nicht mehr gehen. Er kreuzte die Arme vor der Brust, tupfte die Finger sanft auf die Schlüsselbeine und senkte den Kopf. Er vernahm unter seinem Fleisch das Schmatzen der Tropfen. Er verbat sich das Bild blutiger Fäden. Der Himmel umhüllte ihn lautlos mit Schnee.

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