Plötzlich hat Herr M. Zeit. Etwas leer ist der Tag. Er sitzt am Schreibtisch und versucht aus dem Fenster zu schauen. Vergeblich. Türme von Papieren, Büchern und Prospekten versperren den Blick nach draußen. Sieh ins Freie, mein Freund! Mit umwölkter Stirn räumt er die Stapel ab. Unmotiviert herumliegende Stifte werden erst einmal in Reih und Glied gebracht. Größenordnungen gefunden. Dann die ganze Sammlung farblich sortiert. Hm. Schön. Herr M. lehnt sich zurück. Der Stuhl knarrt. Herr M. wundert sich. Ist ihm noch nie aufgefallen. Ob er sich einen neuen anschaffen soll? Er beugt sich wieder vor. Der Bildschirm scheint ihm ein wenig staubig. Er fährt mit der Kuppe seines Zeigefingers behutsam über die dunkle Scheibe. Er schreibt e
t ein Wort in den Staub. Springt auf und sucht ein Tuch. Bei seiner Rückkehr bleibt er im Türrahmen stehen und lässt die Blicke schweifen. Er findet plötzlich, sein Zimmer habe so etwas Rumpelkammerhaftes. Die Fensterbank ist mit Relikten vollgestellt. Ein schwärzlich angelaufener Miniaturseidel aus purem Silber, in dem abgelaufene Zlotyscheine stecken. Sein kleiner Geburtstagszinnbecher, auf den einst der Pate die Vornamen gravieren ließ. In einem verklebten Plexiglasbehälter für Notizzettel, beschriftet mit "lechts und rinks / schon wieder verwechsert" grinst Sebastian Deisler von einem Duplo-Sammelbild. "Ein bisschen gequält", findet Herr M. und rückt den kleinen FPÖ-Teddybären, neben die silberne Spardose. Flott sieht der Schriftzug "Jörg!" auf dem Lätzchen aus. Er macht einen halben Schritt zurück um die Wirkung der Installation zu überprüfen. Dabei fällt er fast über den Koffer mit der defekten Drehleier. Er streicht mit einem Lappen sanft über den stark verstaubten Kasten und klemmt ihn neben den Fußball unters Regal. So! Nun ist es wieder an der Zeit, sich einen Blick auf die fremden Balkone zu gönnen. Wie herrlich diese freigeräumte Aussicht! Nur schade, dass man sich just beim abrupten Rückenkehren die Schreibtischkante schmerzhaft in die Seite rammt. Sofortige Abhilfe tut not. Ächzend wird das unhandliche Möbelstück von seinem Ballast befreit. Und gerückt. Erst ein bisschen nach rechts. Herr M. legt seinen Kopf schief und befindet: Doch eher ein wenig nach links. Jetzt sei aber die Harmonie des Raums empfindlich gestört, teilt ihm ungefragt die aus dem Nichts entstiegene Gattin mit. Herr M. gibt nichts auf diese von einem Amalgam aus Wohnglanzmagazinen, Stilwerkstätten und Feng Shui-Versatzstücken geprägte Besserwisserei. Irritiert fühlt er sich zu seinem Ärger dennoch. Herr M. greift sich erst mal ein Schwammi´s aus den B M Collections: Reinigen - Leicht Gemacht! Mit Akribie beseitigt er eine eben verursachte Schramme an der weißen Wand. Wie leicht das geht! Herr M. sieht einen Fleck neben der Lampe. Husch drüber, wisch und weg mit den Kreidegefüllten Zauberschwämmen. Den Fleck noch und den auch. Schrunde um Schrunde wird geweißelt. Fast in Trance verreibt Herr M. sein Zauberschwammi, bis es nicht mehr da ist. Ein "hochporöser Einweg-Reinigungsschaum aus einem elastischen, wasser- und wärmefesten Kunststoff". Er hält große Stücke auf diese Haushaltsfreunde. Aber sein fast vollkommenes Wohlgefühl wird gestört. Wiederum aus dem Nichts materialisiert sich die Mitbewohnerin. Lässig im Türrahmen lehnend, doch stark angespannt zeigt sie mit spitzem Finger auf den Teppich. "Sag mal, ist das dein Ernst?" gnatzt sie und schiebt die Unterlippe vor; was man in ihrer Heimat "Schüppchen" zu nennen pflegt. Herr M., der im Augenblick mit dem Neudekorieren seines Regals beschäftigt ist, dreht die Ansichtskarte: "So binde ich meine Krawatte" unschlüssig hin und her. "Wovon redest du?" gibt er sich vorsätzlich begriffsstutzig. "Erst stellst du deinen Schreibtisch so, so rechteckig hin. Dann legst du deinen Teppich auch noch so. Stillos. Banal. Geschmacklos. Da wird man ja augenkrank", regt sie sich auf. Herr M. schaut versonnen lächelnd auf seine Tchibo-Magnettafel. Bob Dylan lächelt zurück. "Ist das nur ein Musiker?" steht über dem sehr jungen Mann. Daneben hängt ein kaum erkennbares Porträt des Hausherrn. Der flüstert vor sich hin: "Ihr habt Alle nur davon geträumt. Ich hab´s gemacht!" "Im Ernst", wiederholt seine ihm irgendwann Angetraute und nur ein Hauch von Hysterie liegt in der Stimme. "Du kannst doch nicht wollen, dass ich augenkrank werde, sobald ich dein Zimmer betrete". Herr M. schaut sie an. "Gack, Gack", gibt er zurück und führt seine Hand mit klappenden Zeigefinger auf Daumen ganz nah an ihrem Gesicht vorbei. Das bringt sie zum Tosen. Zuletzt schnappt sie nach Luft, ballt die Fäuste und verschwindet im Nichts. Herr M. lässt einige Anstandsminütchen verstreichen. Er guckt auf fremde Balkone, schaukelt auf seinem kaputten Freischwinger und hört einem Sänger zu, der albern singt: "Manchmal haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern".