Herrchen schweigt

Literatur Trauer Sigrid Nunez nimmt Abschied von einem alten, weißen, charmanten, egozentrischen Hundehalter
Ausgabe 09/2020
Der Freund, die Deutsche, die Dogge
Der Freund, die Deutsche, die Dogge

Foto: Imago Images/imagebroker

Gegen Ende von Der Freund, einem Roman, der zugleich Dokument der Trauer und humorvolle Chronik des Zusammenlebens von Mensch und Hund ist, reflektiert die namenlose Erzählerin die Paradoxien der Erinnerung: „Letztlich zerstören Schreiben und Fotografieren mehr von der Vergangenheit, als sie bewahren. Es könnte also geschehen: Indem man über jemanden schreibt, den man verloren hat – oder auch nur viel über ihn spricht –, beerdigt man ihn endgültig.“ Der Versuch, etwas zu erhalten – in Wahrheit ein Akt der Auflösung? Nach dem Selbstmord eines engen Freundes nimmt sie, eine New Yorker Schriftstellerin und Dozentin, dessen riesigen Hund Apollo in ihrer Wohnung auf. Die alternde, trübe dreinblickende Dogge brauche schließlich ein Zuhause, denkt sie sich. Wessen Depression hier von wem gelindert werden soll, lässt sich nach kurzer Zeit nicht mehr genau sagen. „Es gab eine Zeit“, stellt sie nüchtern fest, „in der mir klarer gewesen wäre, ob es von einer geistigen Störung zeugt, wenn man einem Hund Rilkes Briefe an einen jungen Dichter laut vorliest“.

Der Freund ist aber auch ein Schlussstrich unter einen Typus Mann, wie man ihn aus Büchern wie J. M. Coetzees Schande oder Philip Roths Das sterbende Tier kennt: Ein charmanter, egozentrischer Schriftsteller und Dozent, der Affären mit Studentinnen als selbstverständlichen Teil seines Jobs ansieht. Dass die Universität ihm „Mangel an vernünftigem moralischen Urteilsvermögen“ attestiert, ihn verwarnt, führt ebenso wenig zur Einsicht wie die Tatsache, dass Studentinnen schon länger darauf bestehen, nicht mit „meine Liebe“ angeredet zu werden. Auch die Erzählerin hat bei ihm studiert, über die Jahre hat sich Freundschaft entwickelt. Der Roman schildert widersprüchliche Gefühle, anfängliche Bewunderung und allmähliches Auseinanderdriften, enthusiastische Gespräche über Literatur und Streit über unverhohlenen Sexismus.

In den USA war Sigrid Nunez’ siebter Roman ein Überraschungserfolg. Die gebürtige New Yorkerin, die zuletzt 2011 ein autobiografisches Buch über ihre gemeinsame Zeit mit Susan Sontag veröffentlicht hatte, gewann dafür im vorletzten Jahr den National Book Award. Die große Resonanz hat sicherlich auch damit zu tun, dass sich in den Erinnerungen der Erzählerin auch ein größerer historischer Wandel in Bezug auf Rollenbilder und das Verhältnis der Geschlechter spiegelt. Bei der Beerdigung merkt ein Bekannter lakonisch an, dass der Verstorbene nun „offiziell ein toter weißer Mann“ sei.

Schreiben verhärtet uns

Diese symbolische Grablegung läuft für alle halbwegs gesichtswahrend ab. Und die Erinnerungen der Erzählerin lassen sich auch eher als Anregung zur Ambiguitätstoleranz lesen. Das mag man für eine Auseinandersetzung mit destruktiver Maskulinität zu dezent finden. Trotzdem ist es lesenswert, wie hier über moralische Grauzonen – und deren Neuverhandlung – nachgedacht wird.

Nunez hat eine Affinität zu Abschweifungen. Immer wieder gibt es ebenso kurzweilige wie intelligente Exkurse auf Philosophie und Kino, den Schreib-Alltag oder das Verhältnis zwischen Mensch und Hund: „Wie rätselhaft menschliches Unglück für sie sein muss. Wir, die wir unsere Schüsseln jederzeit mit so viel Essen füllen können, wie wir wollen, die nach draußen gehen und frei herumlaufen können“. Dabei löst Der Freund Grenzen zwischen Roman, Memoiren und Essay auf und hangelt sich wie viele autofiktionale Bücher der letzten Jahre eher an Gedanken denn am Plot entlang. „Wenn Lesen die Fähigkeit zur Empathie tatsächlich fördert, wie uns ständig erzählt wird“, heißt es beispielsweise über Autoren-Egos und Konkurrenzdenken, „dann scheint Schreiben sie zu vermindern.“

Die sprachliche Schlichtheit und Eleganz von Der Freund hat Anette Grube sehr gelungen ins Deutsche übertragen. Ob das Ergebnis überhaupt gut sein müsse, „wenn das Schreiben eines Buchs für jemanden eine kathartische Erfahrung ist“, fragt Nunez’ Erzählerin. Die Frage kann man offenlassen. Nunez muss sich über die Qualität ihres Schreibens nicht den Kopf zerbrechen.

Info

Der Freund Sigrid Nunez Anette Grube (Übers.), Aufbau 2020, 235 S., 20 €

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