Herrlich laut

Die Kosmopolitin Unsere Kolumnistin erzählt vom Leben in Jerusalem
Ausgabe 09/2017
Culture Clash? Nicht unbedingt
Culture Clash? Nicht unbedingt

Bild: Gali Tibbon/AFP/Getty Images

In Jerusalem ist es ganz, ganz still. Die Muezzins rufen, es ist, als riefen sie gegeneinander an. Vögel zwitschern, Hunde bellen. Menschen sprechen, rufen, weinen, schlürfen, lachen, streiten, Menschen leben. Musik. Ein Motorroller, ein einsamer, in der Altstadt ist kein Verkehr. Lebensmittel werden auf Märkten ausgeladen. Ich nehme die Geräusche auf, erzähle mir, dass ich sie mitnehmen könnte, aber die Sprachaufnahme, die ich „noises of Jerusalem“ taufe, weiß nichts von der Stille, und ich weiß, dass ich nicht sie mitnehmen will, sondern ein Gefühl. Das Gefühl ist laut, sagt aber kein Wort.

Ich komme nachts in Jerusalem an. Ich laufe die Al-Wad hinunter, fünf Buchstaben, die mir beweisen, dass ich in einer anderen Welt bin, die letzten Marktverkäufer packen ihre Sachen zusammen, zwei alte, bärtige Männer rauchen Shisha. Das Licht ist fahl in den engen, gerucherfüllten Gassen. Vier orthodoxe Juden kommen mir rasend auf Fahrrädern entgegen, und leider ist es bereits ein Klischee, dass ihre Schläfenlocken im Fahrtwind wehen. Die schwarzen Mäntel tun es ebenfalls. Da ist dieses Gefühl. Das Gefühl von Weite.

Aber erst mal einen Schritt zurück. Mögliche Vorurteile aus dem Weg geräumt. Ich bin kein Tourist, der mit großen Augen und noch größeren Objektiven bärtige Männer – seien sie Juden oder Muslime – fotografiert; ich habe in dieser Stadt vor Jahren gelebt. Und des Nahostkonflikts, der auf diesem Stückchen Erde so sichtbar wie unsichtbar ist wie sonst nirgendwo, bin ich mir nicht nur bewusst, ich kenne seine vielen Facetten. Lassen wir also mal alle Vorwürfe von möglicher naiver Verklärung beiseite. Jetzt kann ich von dem Gefühl erzählen.

Abends sitze ich auf einem Platz im jüdischen Viertel der Altstadt und sehe dem Leben zu. Mädchen, jung und hübsch, in Röcken, die der Vorschrift, bis unterhalb der Knie zu gehen, entsprechen, lachen. Und zwitschern, wie es 14-Jährige gerne tun. Kinder rennen, es ist spät, und manchmal fallen sie dabei, und ihre Mütter und Väter schauen dabei zu. Ich glaube nicht, dass es im Hebräischen oder Arabischen diesen Begriff gibt: Helikoptereltern. Orthodoxe Männer, wie wir sie aus Filmen kennen, schwarze Gewänder und Hüte, Haltung leicht gebückt, telefonieren unentwegt, oft schaukeln sie einen Kinderwagen dabei. Eine Frau tritt ihrem so gekleideten Ehemann entgegen, ich meine, in ihren Haaren eine Perücke zu entdecken, wie es die religiösen Vorschriften sagen, und dann entdecke ich, gegen alle meine Vorstellungen, ein flirtendes Zwinkern in ihren Augen. Und ein zweites. Und er lacht. Ich bleibe sitzen, und ich sehe dem Leben zu. Das Sitzenbleiben ist wichtig, weil es dauert, bis ich meine Brille ausziehe. Die der Feministin, die Frauen unterdrückt sieht. Die der Atheistin, die sich weigert zu glauben, dass es Gott wichtig sein könnte, ob man sich die Haare an den Schläfen rasiert oder nicht. Die der Geschichtsbewussten, die sich über die Zuständigkeiten in der Altstadt Gedanken macht. Die der Menschenrechtlerin, die genau beobachtet, ob Muslime an den Kontrollpunkten beim Eingang ins jüdisches Viertel strenger untersucht werden als etwa Touristen. Ich leg meine Brille ab und sehe ihr Leben.

Später laufe ich durchs muslimische Viertel zurück. Alte Männer, die die Marktstände verpacken, und junge Männer, die sich in kleinen Salons die Haare zurecht rasieren lassen, große Jungs, die in dreckigen Spelunken auf Computern zocken, kleine Jungs, die trotz später Stunde draußen spielen. Die Feministin in mir fragt nicht mehr, wo denn die Frauen sind, und auch alle anderen Stimmen halten die Klappe. Da ist nur noch dieses Gefühl: Das ist ihr Leben. Dass es so viele Leben gibt, und dass meines ganz klein ist und nicht von dieser Bedeutung. Das Gefühl ist herrlich laut, es braucht keine Worte.

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