Am 7. Oktober klingelte bei Abdulrazak Gurnah um die Mittagszeit das Telefon. Es meldete sich der ständige Sprecher der Schwedischen Akademie, Mats Malm, um den Schriftsteller vorzuwarnen, dass ihm gleich der Literaturnobelpreis zugesprochen wird. „Ich dachte, da will mir einer einen Streich spielen“, erinnerte sich Gurnah später. Kein Wunder, denn seit Wole Soyinka 1986 hat kein afrikanischer Autor mehr den bedeutendsten Literaturpreis der Welt erhalten. Gurnah bekommt ihn nun „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“, hieß es in der Begründung.
Zwei Monate später schüttelt man immer noch fas
r noch fassungslos den Kopf, dass dieser Autor hier nahezu unbekannt war. Kaum ein Werk ist so unmittelbar mit dem dunklen Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte verbunden wie das des 1948 auf Sansibar geborenen Romanciers. Dass es kaum jemandem vertraut war, wirft ein Schlaglicht auf die Verdrängung der blutigen deutschen Geschichte. Fünf seiner 20 Romane wurden bislang ins Deutsche übersetzt, im Oktober waren alle vergriffen. Nun wird rechtzeitig zur Preisverleihung zumindest sein erfolgreichstes Buch wieder aufgelegt.In dem von Inge Leipold übersetzten Roman Das verlorene Paradies von 1994 taucht das deutsche Kaiserreich als kolonialer Akteur aber nur am Rand auf. Die Geschichte nimmt den arabisch-indischen Imperialismus in Ostafrika Ende des 19. Jahrhunderts in den Blick, als die Dominanz der Muslime von weißen Europäern abgelöst wurde. Im Mittelpunkt steht der elfjährige Yusuf, der von seinen Eltern an den arabischen Großhändler Aziz gegeben wird, um ihre Schulden abzuarbeiten. Eines Tages soll er seinen Herrn auf einer Handelsreise in den Dschungel begleiten, doch das Unternehmen steht unter keinem guten Stern. Das Setting erinnert an Joseph Conrads Herz der Finsternis – Absurditäten, Wahnsinn, Krankheit und Tod begleiten die Karawane. Die Reise endet im Chaos, das Paradies, von dem hier alle auf ihre Weise träumen, bleibt in weiter Ferne.Zackzack, DummkopfGurnah ist 1968 nach England geflohen, lehrte dort Englisch und postkoloniale Literatur. In seinem Werk umkreist er auch Phänomene der nachkolonialen Gegenwart wie Flucht, Identität und Erinnerung. Seine Prosa ist unprätentiös, nachdenklich, eindringlich. Sein Werk politisch, ohne zu moralisieren. Er belegt, wie komplex die Welt ist, und meidet einfache Antworten. Sein Schreiben mündet nicht in der Anklage von Umständen oder Regimen, sondern im Beobachten der durch Zeit und Raum irrenden und sich begegnenden Körper. Dabei zeigt er, wie Macht korrumpiert, warum Wahnsinn regiert und dass Rassismus kein Phänomen der Neuzeit ist.Sein aktueller Roman Afterlives, der im Frühjahr 2022 auf Deutsch erscheinen soll, setzt Anfang des 20. Jahrhunderts ein, als schon „jedes Stück Land in diesen Breiten Europäern gehörte, zumindest auf der Karte: British East Africa, Deutsch-Ostafrika, África Oriental Portuguese, Congo Belge.“ Den Widerstand der Bevölkerung lässt das Kaiserreich von den afrikanischen Rekruten der deutschen Schutztruppen mit äußerster Gewalt niederschlagen. „In den etwa dreißig Jahren, seitdem sie diesen Landstrich erobert haben, haben die Deutschen so viele Menschen getötet, dass dieses Land im wahrsten Sinne des Wortes mit Knochen und Schädeln übersät und die Erde von Blut durchtränkt ist.“ Hamza, ein Junge wie Yusuf, wird Zeuge und Opfer des Herrenmenschentums, erfährt aber auch die Nächstenliebe eines deutschen Missionars. Die Erzählung – im englischen Original durchsetzt von deutschen Wörtern wie zackzack, Dummkopf oder Exerzierplatz – beugt sich nicht voyeuristisch über die Gewalt, sondern lässt sie nur an den Rändern aufscheinen. Der mit Kisuaheli, Arabisch und Deutsch versetzte englische Text bildet die koloniale Erfahrung im ethnischen „melting pot“ Ostafrika sprachlich nach. Das ist große Literatur, die lange nachklingt und uns unmittelbar betrifft.Postkoloniale Literatur ist international stark gefragt. In Paris wurde kürzlich der Senegalese Mohamed Mbougar Sarr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, in London der Südafrikaner Damon Galgut mit dem Booker Prize. Während man auf Sarrs post-postkolonialen Literaturkrimi La plus secrète mémoire des hommes (dt: „Die geheimste Erinnerung der Menschen“) noch bis Herbst 2022 warten muss, kann man Galguts fulminante Familiensaga schon zu Weihnachten lesen. Das Versprechen handelt vom Niedergang einer weißen südafrikanischen Dynastie. Die Swarts verfolgt ein Fluch, weil sie der Schwarzen Haushaltshilfe Salome nicht wie versprochen ihr Wohnhaus schenken. „Ein gegebenes Versprechen ist eine unbezahlte Schuld“, schreibt Shakespeare. Der von Thomas Mohr meisterlich übersetzte Roman zeigt diese Schuld auf, die eine moralische, aber auch eine koloniale ist. Galguts Allegorie auf die Regenbogennation erzählt von den unerfüllten Hoffnungen seit dem Ende der Apartheid und spiegelt die „seltsamen, simplen Fusionen“, die dieses Land zusammenhalten. Wie durch eine Kameralinse folgt man dem Blick des allwissenden Erzählers, der beständig am Objektiv dreht, um die komplexe Wirklichkeit Südafrikas einzufangen.Gurnah, Galgut, Sarr und nicht zuletzt Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga (der Freitag 41/2021) – die afrikanische Gegenwartsliteratur ist vielfältig und erzählt ebenso differenziert wie raffiniert von der deutschen und von der europäischen Schuld. Entdecken muss sie niemand mehr. Aber lesen sollten sie möglichst viele.Placeholder infobox-1