Zwei Männer und eine Frau stehen im Wartebereich des Flughafengebäudes. Einer verabschiedet sich von ihr und küsst sie mit einer Mischung aus Schmerz und Zuversicht. Dann geht er durch den Check-In. Die Frau und der andere Mann bleiben zurück. Sie sehen einander an, vielsagend, nichts sagend. Die Jahreszeit des Glücks beginnt sozusagen wie die Odyssee. Es ist eine archaische Geschichte, die der tschechische Regisseur Bohdan Sláma erzählt - doch sein Film berichtet nicht von den Abenteuern des Ausfahrenden, sondern von denen, die zurückbleiben.
Der Ort in Tschechien, an dem alles spielt, hat keinen Namen. Den Stadtkern prägen unsanierte Plattenbauten. An seinen Rändern gibt es zwar Wiesen und Seen, doch ist die veraltete Industrie überal
te Industrie überall präsent, mit Schloten, Schächten und Müllhalden. Der Mann, der zurück geblieben ist, wechselt zwischen beiden grauen Welten hin und her. Um ihn herum entwickelt sich die Handlung.Toník ist ein Gelegenheitsarbeiter; er wohnt bei seiner Tante in einem alten, baufälligen Landhaus, durch dessen Dach es hineinregnet. Weit und breit existiert hier kein anderes Gebäude mehr als die Fabrik nebenan mit einem Grau, das sie dem Umland wie einen Stempel aufgedrückt hat. Immer öfter besucht Toník nun Monika im Stadtzentrum, ihr Freund ist in die USA geflogen, wo er Arbeit gefunden hat. Während sie auf das Ticket wartet, das er ihr schicken will, sobald er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch für sie einen Job aufgetan hat, steht Toník mit stets offenem Ohr für sie bereit. Toník ist ihr bester Freund, aber er ist auch seit Jahren schon in sie verliebt - ohne dass sie das weiß."Du bist einfach zu weich!", sagt ihm Monikas arbeitsloser Vater bei einem gemeinsamen Besäufnis. In seinen Augen wäre Toník der Richtige für seine Tochter. Ganz anderer Meinung ist da die Mutter, die für Monika eine schillernde Zukunft im Westen voraussieht, an der Seite ihres smarten Freundes, der als einziger von allen weit und breit "etwas erreicht" hat. Die Tochter räumt inzwischen weiterhin die Regale im Supermarkt ein und wartet auf Anrufe aus den Staaten.Der soziale Abstieg von Monikas Nachbarin Dascha bricht diese Pattsituation des Wartens auf. Ausgelöst durch das emotional aufreibende Auf und Ab einer Affäre mit einem verheirateten Mann bricht bei ihr eine psychische Krankheit aus, die sie immer mehr verwahrlosen lässt und schließlich in eine geschlossene Anstalt bringt. Da niemand da ist, der sich um ihre beiden kleinen Kinder kümmert, übernimmt Monika diese Aufgabe, und mit ihr Toník, der sich rasch zu einem Bilderbuchvater entwickelt.Für die Kinder sorgen, ihnen Geschichten erzählen, ihnen die Welt erklären - diese neuen Lebenselemente bringen Monika und Toník mehr und mehr zusammen. Niemand spricht es aus, aber sie fühlen sich wie eine Familie. Zwar sind die beiden kein wirkliches Paar, noch sind die Kinder um sie herum die ihren. Doch sie weigern sich, das wahrzuhaben. Und sind, für eine begrenzte Zeit, glücklich.Die Leistung von Bohdan Sláma besteht darin zu zeigen, dass man genau das als "Lebensfreude" begreift: Der glückliche Mensch nimmt einfach nur einen Ausschnitt aus der Realität wahr und läuft mit der rosaroten Brille durch die Gegend. Man weiß nicht, soll man lachen oder weinen über die vierköpfige Möchtegernfamilie, die zusammen auf einem See in der Nähe von Toníks verfallenem Haus eine Ruderpartie unternimmt. Toník erzählt den Kindern von Riesen, die in dem See wohnen und die sie umschiffen müssen. Sie schlafen, aber wehe, man weckt sie. Doch der mythische Ort, über den die kleine Arche dahingleitet, ist umgeben von Schloten und Schächten, von Müll und Dreck. Niemand sonst ist hier, weil niemand auf die Idee kommen würde, sich hierher zu verirren. Man ahnt: Vor den bedrohlichen Monstern sollten eher Toník und Monika Angst haben und nicht die Kinder - denn es gibt nach jedem Traum ein Aufwachen im echten, monströs wahren Leben. Odysseus in Gestalt von Monikas Freund ist in der Ferne nicht untätig.Jeder, der im Kino sitzt, hat die Erfahrung schon einmal gemacht, wahrscheinlich schon oft. Träume sind Schäume. Irgendwann einmal muss jeder erwachsen werden. Man muss den Dingen ins Auge sehen. Von Hoffnung allein kann der Mensch nicht leben. Was nicht geht, kann man nicht erzwingen. Und so weiter. Miterleben zu müssen, wie andere diese Erfahrung machen, ist beim Ansehen von Die Jahreszeit des Glücks deswegen so schmerzlich, weil man sich plötzlich wieder fragt: Muss ich das wirklich? Wer zwingt mich eigentlich dazu?Bohdan Sláma erzählt seine Geschichte auf verhaltene, unmelodramatische Weise. Seine Figuren sind "normale" Menschen, gefangen irgendwo in der Mitte oder am Ende ihres Lebens, völlig uneitel in Szene gesetzt. Entgegen dieser äußerlichen "Unscheinbarkeit" hat der Film in seinem Herkunftsland Rekorde geschlagen: Der erfolgreichste Film der letzten Jahre in Tschechien, gedreht mit den bekanntesten Stars des tschechischen Kinos.Von ihnen überzeugt vor allem Pavel Lis?ka überzeugt in der Rolle des Toník. Hingebungsvoll verkörpert er die Fähigkeit, jeden Gedanken an die Zukunft komplett auszublenden. Nachdem er Monika das kaputte Dach des Landhauses gezeigt hat, macht er sich an die Renovierung. Mit Furor legt er Ziegelsteine übereinander, klebt Kacheln an die Wand, installiert einen Whirlpool für die Kinder. Ein Haus bauen - keine andere Tätigkeit ist seit Menschengedenken so sehr mit Zukunftsplanung verbunden. Bei Toník wird sie zum Rausch an der Gegenwart, deren flüchtig hingeworfene Momente man gierig verschlingt wie ein Tier ein Stück Fleisch.Denn der Freund in den USA existiert. Die Mutter der Kinder existiert. Die Fabrik benötigt für ihren Ausbau das Grundstück, auf dem das Haus steht. Das haben archaische Geschichten nun einmal so an sich: Abgerechnet wird am Ende, wenn diejenigen wieder auftauchen, die ihren angestammten Platz einfordern. Morpheus, Gott des Traumes, kann da nichts dran ändern. Uns, den Zuschauern, hat er bislang ja auch noch nie geholfen.
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