Skizzieren wir eine Zukunft, wie sie sein könnte, wenn wir nichts unternehmen: Viele Küstengebiete sind nicht mehr bewohnbar, weil das Risiko für Fluten zugenommen hat. Bei zehn Milliarden Menschen auf der Erde ist Platz ohnehin knapp geworden, doch vielerorts stapeln sich Mülltürme, weil wir zu viel verbrauchen und zu wenig wiederverwerten. Gleichzeitig sind Rohstoffe extrem teuer.
Wer kann es sich da noch leisten, in Häusern wie heute zu wohnen? In Häusern also, deren Wände aus Gipsplatten bestehen, die später auf Mülldeponien landen und dort schädliche Gifte freisetzen. Oder in Häusern, die ständig Strom und Wasser verbrauchen? Mal anders gefragt: Wer will dann noch so leben?
Die gute Nachricht: Auf der ganzen Welt arbeiten
en Welt arbeiten Menschen an neuen Wohnideen. Dabei entwerfen sie nicht nur Hyper-Wolkenkratzer wie jüngst in Seoul oder Schanghai. Sie sind auch auf kleinstem Raum kreativ. Zahlreiche Menschen bloggen über ihr grünes Leben in selbst gestalteten Wohnwagen, in Schiffscontainern oder in Baumhäusern. Für sie ist das kein Verzicht, es ist das reine Glück der Selbstbeschränkung. Start-ups wollen mit ökologischen Alternativen den konventionellen Baumarkt umkrempeln. So wie Ecovative aus den USA, die vollständig recycelbare Wände aus Pilzschaum herstellen. Auch Müll ist zum begehrten Baumaterial avanciert. Englands erstes Haus aus Abfall wird mit gebrauchten Zahnbürsten und CDs gedämmt. Die Macher des Open-Source-basierten Kunstprojekts „Open Island Berlin“ bauten im Sommer auf der Spree Schwimminseln aus Müll, die irgendwann durchaus bewohnbar sein könnten.Ein Vorbild in Sachen Materialverwertung steht nun bezugsbereit auf einer großen Wiese in der baden-württembergischen Gemeinde Kreßberg. Die Außenwände von Deutschlands erstem „Earthship“ bestehen aus aufgestapelten, mit Erde gefüllten Autoreifen. Mit Lehm verputzt, sind diese Wände ideale Wärmespeicher. Glasflaschen sind verbaut, die nicht nur ein günstiges Material darstellen, sondern auch schöne Mosaike und Licht bringen. Das Earthship aber alleine dafür zu würdigen, dass es zu großen Teilen aus Müll besteht, ist zu kurz gedacht. „Es ist ein Experiment des Zusammenlebens“, sagt Stefanie Raysz von der Gemeinschaft Schloss Tempelhof. Letztere besteht seit rund fünf Jahren und mittlerweile aus mehr als 100 Menschen. Rund 25 von ihnen werden ab Februar ihr Leben im Earthship beginnen.Inspiriert wurden sie vor zwei Jahren durch einen Vortrag von Michael Reynolds, bekannt als Vater der Earthships. Der US-Amerikaner und Architekt Reynolds entwickelte die Idee in den 1970er Jahren. Von Architekten aber hält er selbst nicht viel. Wohl, weil sie Menschen hilflos machen und sie auch in ihrer selbst verschuldeten Ignoranz unterstützen. In Reynolds’ Augen muss jeder Mensch in der Lage sein, sich selbst ein Dach über dem Kopf zu bauen und zudem wissen, woher Strom und Wasser kommen. War Reynolds’ Konzept der Earthships damals nur Hippies bekannt, trifft es heute den Nerv der Zeit. Der fast 70-Jährige mit der grauen Mähne verkauft seine Baupläne in die ganze Welt und kann sich vor Workshopanfragen kaum retten. 1.000 Earthships gibt es mittlerweile – von Haiti über Malawi bis Australien.Dämmung ohne Styropor„Wir hatten eigene Vorstellungen davon, wie unser Earthship aussehen soll“, erklärt Stefanie Raysz. In Reynolds’ ursprünglichen Plänen ist das Earthship als Einfamilienhaus konzipiert. Zudem stehen nicht Bio-materialien im Vordergrund, sondern einfach zu beschaffende. Die Gemeinschaft Schloss Tempelhof übersetzte Reynolds’ Baupläne aus dem Englischen und passte sie stundenlang an die eigenen Bedürfnisse an. Wo Reynolds’ Entwürfe beispielsweise nur Platz für eine Toilette vorsahen, mussten mindestens vier her. Wo täglich knapp dreißig Menschen zusammenleben wollen, braucht es auch mehr Fenster. „Wenn in den regulären Bauplänen einhundert Schrauben vorgesehen waren, dann haben wir uns gefragt: Brauchen wir nun viel mehr davon oder viel weniger?“, erinnert Raysz die Planungsphase mit vielen durchdiskutierten Nächten. Der Gemeinschaft war es wichtig, dass die Baumaterialien möglichst ökologisch sind. Das üblicherweise zur Dämmung verwendete Styropor wurde also durch teuren, aber umweltfreundlichen Glasschotterschaum ersetzt. Doch wie verhält sich dieser Schaum in Wänden und Böden? Auch das musste sich die Gemeinschaft erst eigens anlesen. Mit den Anpassungen kostete der Bau etwa 300.000 Euro. Finanziert wurde er zu einem Drittel über Crowdfunding, der Rest kam aus dem Gemeinschaftstopf. Für die Bewohner repräsentiert das Earthship ihre Haltung zueinander. Die Philosophie erklärt Raysz so: „Normalerweise lebt man in Wohnungen übereinander. Man muss Treppen überwinden, um zueinanderzukommen. Jetzt begegnen wir uns auch wohnlich auf einer Ebene. Und: Keiner geht verloren.“ Der 150 Quadratmeter große Innenraum dient als Küche, Bad und Gemeinschaftsraum. Ein eigenes Gewächshaus versorgt mit Gemüse, Kräutern und Obst. Schlafen allerdings werden die Bewohner in ihren privaten Wohnwagen und Jurten, die um das Earthship herum stehen.Der Name Earthship mag einen an die Arche Noah erinnern, weil es seinen Bewohnern Schutz bietet in einer Welt, die sich selbst abschafft. Laut Raysz spielt der Name aber vielmehr darauf an, dass das Haus mit dem Rücken in der Erde liegt und so eine sich selbst versorgende Einheit in der Erde darstellt.Vier Monate arbeitete eine 70-köpfige Mannschaft am Bau des Hauses. Gefunden hat sie sich über die Earthship-Homepage von Michael Reynolds, auf der man sich freiwillig für den Bau von Projekten auf der ganzen Welt melden kann. Den Bau anleiten kann aber nur, wer unter Reynolds’ Aufsicht eine bestimmte Anzahl an Earthships mitbegleitet hat. Das Team für das deutsche Projekt kam überwiegend aus Europa, aber auch aus Kanada, den USA und Australien. Die wenigsten brachten Bauerfahrung mit, dafür Kreativität und Begeisterung. „Das zeigt, dass sich im Prinzip jeder so ein Haus bauen kann. Natürlich braucht es eine gute Planung, vor allem aber Mut und eine engagierte Truppe“, sagt Raysz.Während der Bauphase fand jeden Morgen eine Einsatzbesprechung statt, in der Tag für Tag die nächsten Schritte festgelegt wurden. So fielen die Entscheidungen für den Bau quasi im laufenden Betrieb. Maschinen gab es kaum. Es gehört zu Reynolds’ Überzeugungen, dass man sich sein eigenes Haus eben mit seinen eigenen Händen baut.Heizung? Überflüssig!Ein weiteres Prinzip ist, dass das Haus möglichst autark sein soll. Das deutsche Earthship versorgt sich und die umliegenden Häuser über Solarmodule und Batterien mit Strom. Eine Heizung fehlt, da genug Wärme gespeichert wird, um die Innenräume auf Temperatur zu bringen. Regenwasser landet in Zisternen, wird gefiltert und dient zum Duschen, anschließend zum Bewässern der Pflanzen im Außengarten und für die Toiletten. Bei der Wasserversorgung allerdings waren der Autarkie Grenzen gesetzt. In Deutschland verlangen die Kommunen für jedes Haus einen Trinkwasseranschluss. Ansonsten seien die Behörden dem Projekt gegenüber ausgesprochen aufgeschlossen gewesen, sagt Raysz.Der Experimentcharakter ihres Earthships drückt sich auch dadurch aus, dass das Ausprobieren für die Gemeinschaft längst nicht beendet ist. „Das Haus erzieht einen“, so drückt Raysz es aus. Wie viel Wasser wird täglich verbraucht? Wie viel Strom bringt die Solaranlage auf dem Dach? Wann ist die beste Zeit, die Waschmaschine anzustellen? Solchen Fragen wollen die Bewohner in Zukunft auf den Grund gehen. Da das Haus auch Teil einer studentischen Forschungsarbeit ist, wurden Sensoren verbaut. Die Daten zum Verbrauch werden gesammelt und ausgewertet.Im Rückblick, sagt Raysz, habe die Herausforderung nicht im eigentlichen Bau bestanden, sondern vielmehr in der Organisation des Alltags um diesen herum. Es galt, siebzig Menschen acht Wochen unterzubringen und zu versorgen. Doch die Zeit hat zusammengeschweißt. Raysz weiß von einer neuen Freundin, die nach dem Earthship-Bau ihren regulären Job geschmissen hat und nun an ihrem Wohnort ein Projekt wie das in Deutschland aufbauen will.Wie realistisch ist es, dass das Earthship ein nachhaltiges Wohnkonzept für ganz Deutschland wird? „Genau so ist das wohl eher eine Exotenidee“, glaubt Raysz. „Aber das Projekt regt Diskurse darüber an, wie wir leben möchten.“ Und dafür ist das Earthship nur eines von vielen Beispielen.
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