Es kann sich nur um ein Missverständnis handeln. Der zur Zeit noch amtierende israelische Ministerpräsident Sharon hat zu keinem Krieg aufgerufen, nein, eine eindeutige Friedensgeste bestimmt völlig unerwartet die öffentlichen Debatten. Der Aufruf, die von islamistischer Israel- und Judenfeindschaft bedrohten französischen Juden sollten "so bald als möglich" die Koffer packen und sich vor dem "entfesselten Antisemitismus" "sofort auf den Weg machen", um Zuflucht im jüdischen Staat suchen, kam zur rechten Zeit. Nicht Selbstbewaffung, paramilitärische Schutztruppen, Mauern und Zäune, Raketen und handygesteuerte Terroranschläge, Vergeltung und Abschreckung sind die Antwort, sondern das friedliche Wohnen in Tel-Aviv, Haifa, Jerusalem, oder auch
Hilfe, die Umsiedler kommen!
Zionistisches Gewitter Tausendundein Einwanderer und ein levantinischer Joker
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uch Beer-Sheva, Kiriat Gat, Dimona, Ofakim, Sederot, Netivot (wie bitte, diese Ortsnamen haben Sie noch nie in ARD und ZDF gehört?)Mit einer neuen Masseneinwanderung kann endlich die Wirtschaftskrise überwunden, das Militärbudget reduziert, Bildungs- und Kulturniveau gerade in den Entwicklungsstädten Israels wieder ein wenig farbiger und der Heroinkonsum reduziert werden. Vielleicht, so möglicherweise das Räsonnement, könne damit auch die demographische Grundlage des jüdischen Staates entscheidend verbessert werden, die sonst, gemäß der offiziösen statistischen Befürchtungen, mittelfristig in einem nahöstlichen Vielvölkerstaat versumpfe. Manfrau weiss ja aus Literatur und Filmen, dass diese potentiellen Einwanderer aus alter Tradition dem Körperlichen viel aufgeschlossener gegenüberstehen, als es die nahöstliche Prüderie oftmals zulässt. Welch grandiose demographische Perspektive würden 500.000 Einwanderer, sogar eine Million, vielleicht noch mehr, ergeben - von rosigen Prognosen für die Geburtsrate ganz zu schweigen. Und erst die Familienzusammenführung der Palästinenser in all den leeren Häusern und Dörfern der Umsiedler. Die jemenitischen Juden sind ins Land geholt worden, die äthiopischen, die russischen - und nun diese erneute Bereitschaft, eine energische, aktive und zum Aufbau bereite jüdische Bevölkerung aus Westeuropa in Israel willkommen zu heißen. Da dürfte es eigentlich keine Missverständnisse geben.Es scheint, dass immer, wenn die israelische Politik erstarrt, in Korruptionsskandalen, Wahlopportunismen und allseitiger Aggression zu ersticken scheint, ein zionistisches Gewitter die verschrobenen Verhältnisse klärt, und ein Weg ins Freie sich aufzeigt, auf den man gerade im 100. Todesjahr Theodor Herzls so sehnsüchtig gewartet hatte. Es lässt sich in den Grenzen des Staates so viel altes Neuland beackern, Industrien entwickeln und neue Städte bauen, dass eine ständige existenzbedrohende Auseinandersetzung mit Juden- und Israelfeindschaft jenseits der anerkannten Grenzen des Staates nahezu unsinnig zu sein scheint.Doch wird diese Friedensgeste verstanden? Es könnte doch so einfach sein. Sharon hat sich schlicht versprochen. Er ist überanstrengt, mitgenommen, genauso wie sein Amtskollege Arafat nervös und einfach überfordert. Immer noch ist unklar, ob gegen Sharon und Sohn nicht wegen einer kleineren, nun wirklich territorial belanglosen, griechischen Insel Anklage erhoben werden könnte, bei deren zwielichtigen Kauf durch einen israelischen Geschäftsmann sie eine ebenso zwielichtige Rolle gespielt haben sollen. Doch was kümmert, wiewannwomitoderüberhaupt dieser Felsklotz erworben wurde, wenn man an den Fußballsieg der Griechen denkt und daran, wie die israelischen Fußballfans mit Herz und Seele zu Griechen wurden, in vielen Restaurants seitdem Zatziki mit Falafel auf der Speisekarte steht. Nicht vergessen werden sollte auch, dass ohne große Worte dämpfend auf den innerpalästinensischen Zwist eingewirkt wird, indem einfach nur mäßig Verkehr zwischen der Westbank, also Ramallah, und Gaza zugelassen wird. Wenn man keinen Partner zum Anschreien hat, spricht man leiser, und die Messenger-Technologie, mit Kamera und Lautsprecher um den Computer gruppiert, hat sich noch nicht überall in Regierungsgremien durchgesetzt. Es ist schon schlimm, wenn alles immer nur negativ in den Medien zerfasert wird. Abgesehen davon, dass ja bisher noch niemand erwogen hat, wie denn die Korruption in der palästinensischen Bürokratie eigentlich zum juristischen Casus werden sollte. Eine schwierige Frage, da ja kaum etwas über dortige legale Jurisprudenz bekannt ist, andererseits in Israel gerade ein kritischer Richter erschossen wurde, natürlich wohl aus rein privaten Gründen und im demokratischen Kontext.Der Missverständnisse sind kein Ende. So wurde auch die Mauer völlig missverstanden; denn dieser antiislamische Schutzwall ist ja nach großen historischen Vorbildern gebaut worden - die chinesische Mauer, der Limes, der Hadrianswall -, die unscheinbare Berliner Mauer nicht zu vergessen. Sharon ist, was die Proportionen dieser Monumental-Architektur anbelangt, bedauerlicherweise kurzsichtig, aber Roger Waters hat in seinem Pink Floyd-Gedenkspektakel 1990 vor der zerbröselnden Perspektive des Potsdamer Platzes auch eine wunderbar riesige Styroporimitation der Mauer gebaut, die gegen Ende des Konzerts leichtgewichtig auseinander fiel. Man muss die Mauer-Idee vielleicht so sehen: Das Konzert in Israel ist einfach noch nicht zu Ende!Aber die Einwanderung bringt in der Betonfrage auch eine moralische Lösung, da mit der herbeigesehnten Massenzuführung einfach - es sei daran erinnert, dass es zur Zeit weder Tourismus noch nennenswerte Einwanderung gibt - immens viel Beton benötigt wird, um für Hunderttausende Wohnungssuchende Häuser, Straßen, Plätze zu bauen. Damit wird den palästinensischen Dörfern zwar der Blick auf Beton entzogen, aber wer sagt denn, dass die Moderne nur mit Stacheldraht vermint denkbar sei. (Wo kommt der Stacheldraht eigentlich her? Aus Bayern, aus Brandenburg?)Die "steigende Flut gehässiger und anmaßender Dummheit", die André Glucksmann in seinem Artikel über Sharons "großen Irrtum" in der FAZ vom 23. 7. 2004 "von Zeit zu Zeit selbst in guten Demokratien" mit Recht kritisiert, ist nicht unbedingt ein Ismus. Doch es ist ihm zuzustimmen, dass "jeder mit gesundem Menschenverstand begabte Bürger, ob jüdisch oder nicht" die Pflicht hat, "bei sich zu Hause gegen diese mental übertragbare Krankheit anzugehen.". Davon ist der Staat Israel natürlich nicht auszunehmen.Um auf das einleitend erwähnte Problem öffentlicher Missverständnisse zurückzukommen: Es gibt heute auf der Welt nur ein einziges Gebiet, in dem Juden als Juden unmittelbar bedroht sind; denn dort hat die Französische Revolution noch nicht stattgefunden. Dieses Gebiet sollten sie in der Tat sofort verlassen, damit friedensstiftend und völkerverbindend wirken. Mit der Republik Frankreich hat das allerdings nichts, überhaupt nichts, zu tun. Sharon, in leichter Sprachverwirrung, meinte einfach, dass die jüdischen Siedler aus dem Gazastreifen und aus der Westbank in die anerkannten Grenzen des Staates Israel umziehen sollten. Das ist auch billiger als Flugtickets der Airfrance, ein schlichtes Busticket reicht hier völlig aus. Vielleicht könnten ja die erfahrenen Sprecher der schlesischen und ostpreußischen Landsmannschaften helfen, das Problem der notwendigen Umsiedlung verständnisvoller den Siedlern und den beunruhigten Israelis zu erklären. Sonst wird noch der Ruf laut: Hilfe, die Umsiedler kommen! Und wer möchte schon die Villen des neureichen Ramat Aviv in ein Umsiedlungslager nach dem miesen Muster von Friedland verwandeln, wenn man doch erneut versuchen könnte, die Wüste fruchtbar zu machen. Und wer es noch nicht bemerkt hat, der Bauboom im alten Israel geht weiter, weil eigentlich alle irgendwie wissen, dass die Siedler kommen werden, zumindest aus Gaza, und das kurbelt die Baukonjunktur an. Erinnern wir uns, nach dem Frieden mit Ägypten wurden die jüdischen Siedler auf dem Sinai kurzerhand vom Militär über die Grenze geholt, zumindest diejenigen, die mit Geld nicht zu überzeugen waren. Und der Auszug aus dem Sinai soll kein Präzedenzfall sein?Die Folgen des Bürgerkriegs sind verheerend, doch sie bedeuten auch, dass nicht wenige Palästinenser wieder Arbeit finden, vorläufig, aber nicht endlos, noch jenseits der Grenze. So dient denn die Umsiedlung nicht allein dem Schutz vor der antisemitischen Krankheit, sie verschafft vorübergehend auch magere Einkommen, könnte, wenngleich über Jahre oder Jahrzehnte, dem Abbau antiarabischer Gefühle im Vorfeld der Umgründung einer eigenen palästinensischen Wirtschaft dienen.Aber wovon ist eigentlich die Rede? Antisemitismus? Wieder ein Missverständnis, geht es doch nicht um Angst und patriotische Weinerlichkeit, sondern um eine andere Politik. Kurz, hoffen wir auf eine angemessene Frührente für die Gescheiterten, für Sharon, Arafat, Peres und Bush. Vielleicht ließe sich als gemeinsames Domizil gerade jenes griechische Inselchen Sharons nutzen, das wäre dann ein multikulturelles Paradebeispiel für den künftigen Status von Jerusalem.Allerdings sind Grenzen von Staaten nicht unbedingt gleichzeitig Grenzen zwischen Menschen. Nationale Grenzen müssen im Nahen Osten vorläufig noch sein, alles andere ist heute Fiktion. Doch sind Mauer und Grenze eben nicht dasselbe, und das alte Wort ist nicht veraltet: Die Mauer muss weg!Und, daran könnte manfrau sich auch erinnern, Frankreich ist in der Tat eben nicht Gaza! Dort hatte es einen Emile Zola gegeben. Allons enfants ...Frank Stern, geboren 1944, leitet das Zentrum für deutsche Studien an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva, Israel. Zuletzt erschein von ihm 2002 im Aufbau-Verlag der Band: Dann bin ich um den Schlaf gebracht. Ein Jahrtausend jüdisch-deutsche Kulturgeschichte.
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