Hilflose Rhetorik

GEWERKSCHAFTEN Den kräftigen Sprüchen sollten Taten und Konzepte folgen

Wachen die Gewerkschaften doch noch auf? Ausgerechnet im beginnenden Wahlkampf, in dem sie sich traditionell eher ruhig verhalten, wenn Sozialdemokraten die Regierung stellen? Die kritischen Stimmen jedenfalls häufen sich. Jürgen Peters (IG Metall) erkennt bei der Bundesregierung eine "neoliberale Handschrift." Margret Mönig (Ver.di) fordert einen Kurswechsel in der Haushalts- und Steuerpolitik. Franz-Josef Möllenberg (Nahrung-Genuss-Gaststätten) sieht keinen Anlass, die SPD zu unterstützen, wenn man soziale Gerechtigkeit als Maßstab anlegt. Der einzige Grüne im Konzert führender Gewerkschafter, Ver.di-Chef Frank Bsirske, fordert eine Verschärfung der Erbschaftssteuer auf große Vermögen und die Einführung einer Börsenumsatzsteuer. Der Rhetorik werden in Kürze die ersten Warnstreiks in der Metallindustrie folgen.
Gewerkschaften haben die Aufgabe, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. In Deutschland tun sie dies bekanntlich in doppelter Weise. In Flächentarifverträgen werden Mindestlöhne vereinbart, die der jeweiligen Branche gleiche Lohnbedingungen diktieren, mit der volkswirtschaftlich sinnvollen Konsequenz, dass - bei starren Löhnen - die Gewinne der einzelnen Unternehmen nur mittels höherer Produktivität und mit Innovationen steigen können. Darüber hinaus sind die Gewerkschaften vielfältig in der bundesdeutschen Gremienlandschaft vertreten, um ihre politischen Vorstellungen einzubringen. Auf beiden Kanälen allerdings haben sie in den vergangenen Jahren wenig erreicht. Gegenüber den Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, die sich prächtig entwickeln, sind Löhne und Gehälter nicht nur unter Kohl, sondern auch mit dem Genossen Schröder deutlich zurückgeblieben. Und in der gesellschaftspolitischen Debatte steht der alte Dreiklang - zu hohe Löhne, horrende Steuern und zu viel Staat - höher im Kurs als je zuvor.
Die eigene Defensive - ob beim Geld oder in der Kommunikation - mögen die Gewerkschaften Rot-Grün ankreiden. Aber sie hätten auch allen Grund zur Selbstkritik. Mindestens seit Mitte 1999, als Eichels erstes Sparpaket verabschiedet wurde, hätten die Gewerkschaften beginnen können, ihr Verhältnis zur damals neuen Regierung zu überdenken. Spätestens seit dem Dezember 1999, als Schröder quasi im Alleingang (als Kompensation für die Bankenhilfe bei der Holzmann-Rettung?) den Verkauf von Beteiligungskapital steuerfrei stellte und damit Allianz, Deutsche Bank und Co Milliarden bescherte, hätten sie ihre Autonomie behaupten müssen. So wurde wertvolle Zeit vertan, um in einem damals noch günstigen konjunkturellen Umfeld den Trend der Umverteilung nach oben zu brechen. Wenn sie dies nun - angesichts von Rezession und Terrorhysterie - mit kräftigen Lohnforderungen nachholen wollen, steht ihnen die Einheitsfront der Unternehmen, aller staatstragenden Parteien und Medien noch mehr entgegen als in den Jahren zuvor, auch wenn die vorgebrachten Argumente noch so abwegig sind. Schließlich ist - beispielsweise in der Metall- und Elektroindustrie - der Anteil der Löhne an den Kosten von 27 Prozent (1993) auf mittlerweile weniger als 19 Prozent (2001) gefallen. Selbst wenn die IG Metall die geforderten 6,5 Prozent mehr Lohn voll durchsetzen könnte, würde der Gesamtaufwand der Unternehmen nur um etwas mehr als ein Prozent steigen.
Den Gewerkschaften ist aber nicht nur schlechtes tarifpolitisches Timing vorzuwerfen, sondern auch Phantasielosigkeit beim Umbau der Erwerbsgesellschaft. Wie kann das Kapital wieder eingebunden werden in soziale und ökologische Ziele? Wo bleibt das durchgerechnete, beschäftigungsfreundliche Steuerkonzept? Was haben die Gewerkschaften zu bieten, wenn es um die Missstände an deutschen Schulen und Universitäten geht? Mit welchen Mitteln ist angesichts der großen demografischen Wende künftig soziale Sicherung zu organisieren? Wer in all diesen Fragen immer nur die Traditionen der alten Bundesrepublik verteidigt und auf eigene, zukunftstaugliche Konzepte verzichtet, wird in der Arena medialer Kommunikation selbstverschuldet zum verspotteten Besitzstandswahrer. Die kräftigen Sprüche, die aktuell zu vernehmen sind, werden daran nichts ändern, so berechtigt sie im Einzelnen auch sein mögen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden