Nach jedem Anschlag heißt es in den Kommentarspalten: „Alles kein Zufall.“ Und dann dreht sich das immer gleiche Erklärungskarussell, und die Zeit der Vereinfacher und Zurechnungsspezialisten beginnt. Über Motive des Täters von Nizza und seine politische Herkunft ist zunächst zwar kaum etwas bekannt, aber die ethnische Zuordnung genügt schon für viele, um aus dem Tunesier einen eindeutigen Islamisten zu machen. Mit Verweis auf die Experten Hugo Micheron und Gilles Kepel erklärte etwa die FAZ Nizza kurzerhand zur „Geburtsstätte des digitalen Dschihad“, nur weil sich vor Jahren der Videopropagandist Omar Diaby dort aufgehalten hat. Anders als der rhetorische Gestus meint, „beweist Nizza“ zunächst aber nicht
t aber nichts außer der Plattitüde, dass man einen Lastwagen wie ein Küchenmesser als nützliches Werkzeug, aber ebenso als tödliche Waffe einsetzen kann.Auch Politiker verbreiteten vorschnell vermeintliche Gewissheiten. Premier Manuel Valls witterte am Tag danach „ohne Zweifel in der einen oder anderen Weise“ eine Verbindung des getöteten Fahrers zum radikalen Islam, während sein Innenminister noch erklärte, die Staatsanwaltschaft könne bisher nichts dergleichen erkennen. Wirklich relevante Fragen geraten dagegen an den Rand oder ganz aus dem Blickfeld. Zum Beispiel die Frage: Was bedeutet es für ein rechtsstaatlich verfasstes Land, dass nun schon seit sieben Monaten der Ausnahmezustand gilt? Elementare Grundrechte wie das auf den Schutz der Wohnung wie der Privatsphäre außer Kraft gesetzt werden?3.594 Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung gab es allein zwischen November 2015 und Mai 2016. Verhaftungen ohne richterliche Kontrolle und Hausarreste sind mittlerweile in Frankreich an der Tagesordnung. Die triviale Einsicht, dass das die Sicherheit vor Anschlägen nicht erhöht, sondern nur die Bevölkerung unter eine polizeistaatliche Vormundschaft stellt, bleibt der Regierung verwehrt. Und es dürfte darauf hinauslaufen, dass auch die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2017 in Notstandszeiten stattfinden wird.Mit einem Zusammenrücken der Parteien oder gar einer nationalen Einheit ist nicht zu rechnen. Nicolas Sarkozy, einer der konservativen Bewerber um das höchste Staatsamt, und Rechtsaußen Marine Le Pen vom Front National (FN) werden sich darin überbieten, im Wahlkampf den inneren Terror zu instrumentalisieren. Le Pen gab die Melodie schon vor, indem sie François Hollande vorwarf, er führe nur einen „Krieg der Wörter“. Der Krieg gegen die Plage des islamischen Fundamentalismus habe noch gar nicht begonnen, es sei höchste Zeit, ihn zu erklären. Und Sarkozy verkündete pathetisch: „Nichts kann bleiben wie zuvor. Wir befinden uns in einem Krieg, der andauern wird mit einer Bedrohung, die sich ständig erneuert.“Groteskes GefälleDer Attentäter und seine Hintermänner – falls es die gibt – haben mit dem Anschlag einen Nerv der französischen Mentalität getroffen. Frankreich feiert am 14. Juli mit dem Gedenken an den Sturm auf die Bastille die Befreiung von obrigkeitsstaatlicher Bevormundung. Jenseits von sozial- oder völkerpsychologischen Ferndiagnosen lässt sich leicht ermessen, wie sehr die republikanische Befindlichkeit verletzt wird, wenn es an diesem symbolischen Datum zu einer Attacke wie der von Nizza kommt.Der Sozialwissenschaftler Emmanuel Taïeb verweist auf eine seltsame Inkongruenz in der französischen Gesellschaft: Der manifesten Gewalt steht eine gleichsam purifizierte Gewaltdarstellung in den Medien gegenüber. Das Gesetz vom 15. Juni 2000 verbietet Medien, Bilder „verletzter oder gedemütigter Personen“ zu verbreiten. Und das vom 5. März 2007 untersagt, „Bilder zu verbreiten, die Angriffe auf die Integrität von Individuen“ dokumentieren. Nach diesen Gesetzen wäre es heute aber illegal, das berühmte Foto des nackten, von Napalm verletzten vietnamesischen Mädchens von 1972 zu veröffentlichen. Taïeb schließt daraus: „Indem man die Gewalt nicht zeigt, negiert man die Gewalt anderer und hindert sich selbst daran, zu verstehen, wie und warum andere danach greifen.Besonders grotesk am Ausnahmezustand ist das stark wachsende Gefälle zwischen dem finanziellen und personellen Aufwand für Repressions- und Sicherheitsmaßnahmen nach jedem neuen Anschlag und den geradezu lächerlichen finanziellen und personellen Ressourcen für die Bekämpfung der wirklichen – sprich: sozialen und pädagogischen Ursachen. Zu diesem Gefälle gehört auch der Widerspruch zwischen dem internationalen Auftritt Frankreichs als Garant der – auch militärischen – Durchsetzung universeller Menschenrechte und dem inneren Versagen angesichts einer um sich greifenden sozialen Demontage.Placeholder link-1Placeholder link-2