„Spuck schon ’nen Dollar aus, du geiziger, kleiner Bastard!“, wird Mr. Pink (Steve Buscemi) in Quentin Tarantinos Debütfilm Reservoir Dogs angeherrscht, da er sich in Uncle Bob’s Pancake House weigert, der Kellnerin Trinkgeld zu geben. Die Rechtfertigung: Er glaube nicht daran. Es folgt eine Diskussion unter den Gaunern, die zeigt, dass das „Tipping“ ein Reizthema ist. Und wenngleich Geiz selbstverständlich kein Argument gegen die im Westen seit Jahrhunderten gängige Praxis sein kann, gibt es gute Gründe, mit der alten, aber keineswegs ehrwürdigen Tradition zu brechen.
Schon im 19. Jahrhundert gab es vonseiten der Angestellten und linker Bewegungen Einwände gegen Trinkgeld. So kritisierten Feministen, dass durch diese Praxis fließende Übergänge zu Prostitution entstünden: Kellnerinnen würden auf ihre Attraktivität reduziert werden, Gäste erwarteten bei hohem Trinkgeld über den reinen Service hinausgehende Leistungen vom Personal. Auf einem Plakat von 1825 versprach das legendäre Café Kranzler in Berlin: „Bedienung von zarter Hand“. Noch heute machen viele Gäste die Höhe des Trinkgeldes von der Attraktivität der Servicekraft abhängig. In Ländern wie den USA gibt es zudem „Racial Tipping“, womit gemeint ist, dass schwarze Kellner geringere „Tips“ erhalten als weiße.
Noch dazu erscheint es höchst willkürlich, welche Berufsgruppen überhaupt von Trinkgeldern profitieren können. Friseure und Kellner erhalten wie selbstverständlich Zuwendungen, Essenslieferanten häufig, Paketboten fast nie. Und es ist keineswegs eindeutig, was wir als Geber eigentlich genau honorieren. Selten ist es die bloße Serviceleistung, ausschlaggebend für die Höhe des Trinkgelds sind viele Faktoren, die die Servicekraft – etwa im Restaurant – nicht beeinflussen kann. Beispielsweise, ob das Essen geschmeckt hat und man nicht zu lange warten musste. Die Gesamtatmosphäre des Lokals ist oft ebenso entscheidend wie die Gesellschaft, mit der man sich umgeben hat. Und werden die Preise für die Getränke und Speisen als zu hoch empfunden, wird gern beim Trinkgeld gespart.
Mit drastischen Folgen: Besonders in den USA sind viele Servicekräfte zu großen Teilen von den Gaben des Gastes abhängig. Unternehmer dürfen den Mindestlohn in vielen Bundesstaaten deutlich unterschreiten: Dieser liegt bei 7,25 US-Dollar – was ohnehin schon sehr niedrig ist. „Tipped employees“ aber erhalten gerade mal etwas mehr als zwei Dollar pro Stunde. Hier finanziert das Trinkgeld definitiv Lohndumping.
Was sich ändern könnte, wenn der Mindestlohn auf 15 Dollar angehoben wird. Bernie Sanders forderte dies im Vorwahlkampf der Demokraten, der designierte Präsident Joe Biden will den Vorschlag übernehmen, falls er es im Amt nicht vergisst. Es könnte dann möglicherweise auch keine Ausnahmen mehr für den Gastrobereich geben. Das würde das Trinkgeld-System mindestens deutlich schwächen, womit mehr finanzielle Sicherheit für die Beschäftigten geschaffen würde. Schließlich hängt die Höhe ihres Lohns von der Anzahl und der Zahlungsbereitschaft der Gäste ab, und das nicht nur im „Land of the Free“, sondern auch in Deutschland. Wer eine schlechte Schicht erwischt, hat Pech. Durch das Trinkgeld-System wird das unternehmerische Risiko auf die Angestellten abgewälzt. Ist das Lokal dürftig besucht, leidet darunter zuallererst das Personal.
Auch für den Kunden ergibt das Trinkgeld wenig Sinn. Erhöhte Lohnkosten werden bei jedem anderen Gut sowieso auf den Endpreis aufgeschlagen. Unternehmer sein heißt, Kosten so zu kalkulieren, dass am Ende ein Profit für den Unternehmer bleibt. Ein Restaurantbesitzer, der seinem Personal keinen guten Lohn zahlt, sollte in einer funktionierenden Marktwirtschaft ohnehin die selbstreinigenden Kräfte des Marktes zu spüren bekommen. Ob sich der Service durch den Wegfall des Trinkgeldes verschlechtern könnte, wie befürchtet wird, ist fraglich. Schließlich ist auch jetzt kein Unterschied zu trinkgeldlosen Service-Sektoren festzustellen.
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Die Widerrede von Katharina Schmitz auf diesen Artikel finden Sie hier.
Kommentare 5
Erst der tapfere verbale Einsatz für "Arbeitnehmer"rechte, die Sorge um ihre gerechte (?) Entlohnung, am Schluss dann aber dies:
"Unternehmer sein heißt, Kosten so zu kalkulieren, dass am Ende ein Profit für den Unternehmer bleibt. Ein Restaurantbesitzer, der seinem Personal keinen guten Lohn zahlt, sollte in einer funktionierenden Marktwirtschaft ohnehin die selbstreinigenden Kräfte des Marktes zu spüren bekommen." - Wie aus dem Handbuch der idealen freien Marktwirtschaft zitiert. Lindner, der ja seit seiner Würdigung im Freitag-Salon hier auch mitliest, hat bestimmt Beifall geklatscht.
In Zeiten eines Arbeits(kraft)marktes, der ziemlich ungünstig für die Anbieter von Arbeitskraft steht, sinken die Preise für selbige stetig. Das Trinkgeldgeben könnte man als eine kulturelle Praxis beschreiben, die Restbestand eines nichtentfremdeten Verhältnisses von Leisterinnen und Nutznießerinnen einer konkreten Arbeit ist. Dem Fabrikarbeiter, der mein Auto zusammenschraubt, begegne ich nie. Der Kellnerin, dem Barista schon. Alle leisten eine konkrete Arbeit für mich, an der mich eben ihre Besonderheit, nicht ihr abtrakter, im Lohnpreis ausgedrückter Wert interessiert. Dieser konkrete Dienst, den sie mir tun, hat mit körperlichem und geistigem Einsatz und Fähigkeiten zu tun. Wenn ich ihnen in ihrem Dienst an mir begegne, begegne ich Menschen, nicht Arbeitskräften. Das beantworte ich mit einem Lächeln, einer konkreten, manchmal auch freundlich-kritischen Antwort auf die Frage, ob's geschmeckt hätte, und eben mit "Trinkgeld". Das ist eben nicht die Bezahlung eines Tauschwerts, sondern eine menschliche Geste. Das sie hier in Geldform sich ausdrückt, führt uns dann wieder zurück in die Realität des Kapitalismus.
Die Löhne werden nicht gedrückt, weil Kundinnen Trinkgeld geben. (Und die "selbstreinigenden Kräfte des Marktes" kriegen die Lohndrücker ganz gewiss deswegen nicht zu spüren - so ein Unsinn.) Die Löhne werden gedrückt, weil in diesem System jede Gelegenheit für Extra(!)profit genutzt wird, werden kann, sogar werden muss! Und wenn es ein streng kontolliertes Gesetz gäbe, dass die Trinkgeldannahme verbietet, und dann vielleicht in den entsprechenden Branchen die Arbeitskraft richtig knapp würde, dann würden die Ankäufer der Arbeitskraft mitnichten bereit sein, nennenswert hohe Mindestlöhne zu zahlen, sonder würden auch aus diesen Branchen immer mehr Kapitalinhaberinnen die Einführung eines BGE fordern...
In den USA ist es sowohl in der Gastro als auch beim Autoeinparken (Selbsterfahrung) schon seid mindestens 30 Jahren üblich dass du einen kleinen oder grossen Teil des Trinkgeldes an den Chef abdrücken musst, Je nach Schicht und Uhrzeit.
Trinkgeld weg + Mindestlohn erhöhen = ?
Es kommt halt ganz auf den Verteilschlüssel je Gaststätte an. Da gibt es welche, die das (nur!) von den Kellner:innen eingenommene Trinkgeld in einen Topf werfen und am Ende des Tages auch an die Köche verteilen- immerhin kochen die ja. Und dann gibt es welche, die das Trinkgeld bei der einzelnen Servierkraft lassen, das hat sie einfach zusätzlich zum Stock, für den sie selber verantwortlich ist (aber vom Betrieb gestellt wird). Die Köche gehen hier leer aus. Den Topf gibt es auch nur für das Servicepersonal. Er wird am Ende des Tage vom Chef de Sercice paritätisch an alle Kellnerinnen verteilt. Die Köche gucken wieder in die Röhre. Und schlechte Kellnerinnen- schwarze Schafe gibt es in jedem Betrieb- weeden für etwas belohnt, wofür sie nicht die entspr. Leistung erbracht haben.
Ich denke, Mindestlöhne können auch umgangen werden, wie die Erfahrung zeigt. Das ist ganz einfach: Der Eigentümer erhöht z. B. einfach die Essenspauschale. Meistens essen die Angestellten ja im Betrieb, in dem sie arbeiten. Auch beliebt: Hotels haben i.d.R. eigene Zimmer für das Personal (Saisonbetrieb). Auch da kann man einfach die Pauschale erhöhen.
Warum solche Diskussionen jetzt ausgerechnet eine Branche treffen, welche a) ohnehin schon gewaltig unter (Margen)druck steht und b) strukturell überproportional viele Menschen mit sozialen Problemen beschäftigt (nach Angaben von Gastrosuisse, dem CH-Branchenverband), womit ihr auch eine sozial tragende Rolle zukommt, weiss ich nicht. Ich finde, es ist jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Debatte. Die Gastrobranche hatte schon vor der Coronakrise gewaltige Probleme: Überangebot, fortlaufender Konsolidierungsprozess (Gastroketten, die immer mehr Einzelunternehmer aus dem Markt drängen), Systemgastronomie, etc. In der Stadt Zürich schrieben 68% aller Gaststätten zum Beispiel rote Zahlen- und das schon vor der Coronakrise!
Weil er gerade 200. geburtstag hatte: Friedrich Engels hat in seinem epochalen werk "die Lage der arbeidenden Klasse in England" (1845) bereits bemerkt, dass das, was der arbeitende nebenbei verdient, ihm der arbeitgeber von seinem lohn vorenthalten kann, weil so trotzdem die reproduktion der arbeitskraft gesichert bleibt.
Dieser gerundsatz ist schon seit aufkommen der modernen gastromie unterstellter teil der beschäftigung in diesem gewerbe. Stets wird der vertraglich sehr niedrige lohn damit gerechtfertigt, dass die/der servierende schliesslich "trinkgeld" einnehmen würde, was - implizit - als lohnanteil unterstellt und vom vertraglichen lohn abgezogen bzw. einbehalten wurde/wird.
Erst die C-krise hat offenbar gemacht, dass diese annahme dann, wenn es um "kurzarbeitergeld" geht, zur fatalen situation führt, dass 60% von einem um einen veritablen einkommensanteil (trinkgeld) verminderten teil (der nicht vertraglich dokumentiert ist) nicht zum überleben reichen.
Kein trinkgeld - ist daher auch keine lösung - die arbeitsverträge müssen es einschliessen, dh. der kunde muss es als "serviceentgeld" auf der rechnung wiederfinden (siehe Frankreich)!
guter hinweis.