Die Gebete zu "unserem Heiligen Vater", der jetzt von droben auf uns Polen schaut, betreffen in diesen Tagen die EU-Verfassung. Der himmlische Karol Wojtyla steht vor einer dramatischen Entscheidung: Wessen Gebete soll er erhören? Diejenigen der Polen auf Erden, die darauf hoffen, dass die doch auch katholischen Franzosen Nein zum Europatraktat sagen? Oder derjenigen, die ein Ja der Franzosen erwarten, aber auch im Zweifel sind, weil sie spüren, dass Polens EU-Beitritt im Westen, der nach hiesigem Eindruck dem moralischen Relativismus und der Postmoderne verfallen ist, nicht ganz ernst genommen wird. Unser Johannes Paul II., der noch zu Lebzeiten selbst "das größere Europa" befürwortete und dabei sogar den in der Verfassungspräambel fehlenden Gottesbezug hinna
nnahm, wird sogar post mortem den Trouble mit seinen lieben Landsleuten nicht los. Die selbst scheinen mehrheitlich dem Glauben verfallen zu sein, mit Gebeten ließen sich irdische Probleme lösen.Dies kam besonders am 18. Mai zum Ausdruck, als von allen elektronischen Medien in bigotter Eintracht über Messen und andere kirchliche Feierlichkeiten anlässlich des 85. Geburtstags des wohl demnächst selig gesprochenen Karol Wojtyla berichtet wurde. Getragen von Jugendgruppen, die sich zur Generation von JP2 erklären, ist eine Bewegung unterwegs, die gemeinsam mit dem zumeist älteren Anhang von Radio Maryja eine eifernde Stimmung erzeugt, die auf keinen Fall zum 21. Jahrhundert passt. Und weil ein beachtlicher Teil des Wahlvolkes in diesen Sog geraten ist, vermeiden es auch die Politiker der noch regierenden Sozialdemokratie tunlichst, einfach auszurufen: "Leute, besinnt euch! Hinter dieser spanischen Wand besessener Frömmigkeit, verbergen sich handfeste Interessen. Mit dem Wojtyla-Kult nach dem Tod "unseres Heiligen Vaters", werden harte ideologische Schlachten geschlagen. Wer ist der bessere Patriot? Und wer nicht? Wer der richtige römische Katholik?Warum ist unter diesen Umständen das Votum der Franzosen am 29. Mai für oder gegen die EU-Verfassung für Polen so wichtig? Die Antwort lautet: Weil man in den noch dominierenden liberalen Eliten nicht sicher ist, ob das eigene obligatorische Referendum über diesen Verfassungsvertrag ein positives Ergebnis bringt. Die Crux dabei ist, dass - abgesehen vom Resultat - ein Plebiszit nur dann gültig wäre, wenn mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten (das sind derzeit 14,5 Millionen Menschen) daran teilnehmen würde. Zwar ist man nach einem Jahr EU-Zugehörigkeit mehrheitlich mit dem Mitgliedsstatus zufrieden, aber bei einem Verfassungsreferendum würden nach jüngsten Umfragen nur zwei Fünftel aller Polen abstimmen wollen, wovon wiederum 64 Prozent für die Annahme der EU-Konstitution wären. Dem Ganzen haftet insofern etwas Kafkaeskes an, weil sich die Wähler mit ihrer Meinung nicht daran orientieren, was tatsächlich in der Verfassung steht. Die liberalen Parteien - die Sozialdemokraten der SLD, die oppositionelle Bürgerplattform (PO) und die neu gegründete Demokratische Partei (ein Aufguss der einstigen Freiheitsunion) - behaupten, die Verfassung sei gut für Polen. Die Bauernpartei (PSL) wie auch die radikalere Bauernvereinigung Samoobrona (Selbstverteidigung) pflegen ein ambivalentes Verhältnis zu besagtem Regelwerk. Die rechtsliberale Bewegung Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist ebenfalls "dafür" und "dagegen", während die nationalklerikale Liga Polnischer Familien (LPR) die Verfassung "für ein Machwerk des Teufels" hält. Doch sind das Worte, nur Worte - der Verfassungstext selbst ist weitgehend unbekannt, auch in der so genannten politischen Klasse. Ob die EU-Verfassung ein wirtschaftsliberales Europa festigt oder vielleicht doch mit der "Charta der Grundrechte" soziale Prinzipien bindend festschreibt, ist in der publizistischen Debatte kein Thema. Dem Volke wird zugemutet, eine Katze im Sack zu kaufen und nicht weiter zu fragen.Um für das Referendum die nötige Beteiligung zu sichern, war man in Warschau noch bis vor kurzem der Auffassung, man solle am besten die Volksbefragung mit der im Herbst anstehenden Parlaments- und Direktwahl eines neuen Staatsoberhauptes verbinden, dann würden die Leute schon an die Wahlurnen gehen. Das ist seit einer Woche nicht mehr möglich, seit Präsident Aleksander Kwasniewski und Sejmmarschall Wlodzimierz Cimoszewicz auf einer Pressekonferenz bekannt gaben, dass die Abstimmung über den nächsten Sejm für den 25. September anberaumt sei, und das Präsidentenvotum am 9. (erster Wahlgang) beziehungsweise 23. Oktober (zweite Runde) stattfinden solle. Für das Verfassungsreferendum gab es hingegen keinen Termin. Da es aber vollkommen absurd erscheint, die Polen irgendwann im Herbst ein viertes Mal an die Wahlurnen zu rufen, dürfte im vorläufigen Verzicht auf die Bekanntgabe eines Datums wohl die Hoffnung mitschwingen, dass die Franzosen mehrheitlich nein sagen und damit die Sache für Warschau erledigt ist. Andererseits: Triumphiert in Frankreich das Ja, soll es augenscheinlich den Rechtsparteien, die am 25. September mit ziemlicher Sicherheit die Regierungsgewalt zurück erobern dürften, überlassen bleiben, sich dann auch mit der Verfassungsfrage zu plagen.