Hoffentlich erkennt mich keiner

Krippendienst mit Rute Erfahrungen eines Weihnachtsmanns

Ich mach´ das jetzt schon seit einigen Jahren. Irgendwann Anfang November kommt der erste Anruf, entweder von Stammkunden oder es ist eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes. Und obwohl ich mir beim Verpacken meines Weihnachtsmann-Kostüms im letzten Jahr noch gesagt habe, im nächsten Jahr hörst Du nun aber auf mit diesem pseudoreligiösen Theater, werde ich, wenn ich die sanfte Stimme von Frau A. am Telefon höre, die mich seit vier Jahren regelmäßig einmal im Advent oder kurz davor anruft, wieder schwach. Und dann denke ich, so schlecht ist es bei der Familie A. ja nun auch wieder nicht gewesen. Ihr Mann, ein Bauunternehmer, wie Frau A. mir mal vertraulich in der Küche erzählte, ist zwar meistens etwas knurrig, wenn der Weihnachtsmann kommt, aber vielleicht ist er ja immer so. Ich treffe ihn nur Heiligabend in der guten Stube, um seine Tochter zu erfreuen. Das gelingt mir in der Regel spielend. Außerdem erweist sich Herr A., wenn ich gehe, dann auch wieder als relativ großzügig. Da kann man nicht meckern. Einmal, aber das war ein außerplanmäßiger Einsatz zum Nikolaustag, hat mich sogar der Bruder von Herrn A., dessen Geschäfte offensichtlich auch nicht zum Schlechtesten standen, mit einem 7er BMW zu Hause abgeholt. Dies war noch am Anfang meiner Karriere. Damals wohnte ich in einem unsanierten Gründerzeithaus in der Leipziger Südvorstadt, an dem man noch einen Bombeneinschlag aus dem Zweiten Weltkrieg besichtigen konnte. Das Haus hatte zehn Riesenwohnungen mit teilweise über 200 Quadratmeter Wohnfläche und eine Hausmeisterwohnung unter dem Dach. Die bewohnte ich. Außer mir lebte lediglich noch Frau Dr. Scharfenorth, eine alleinstehende Dame, in diesem Haus, die vom Fenster im ersten Stock aus beobachtete, wie mir der Herr im 7er BMW die Türe zum Fonds seines Wagens aufhielt. Draußen lag Schnee und da wollte die Familie A. mir offenbar nicht zumuten, den weiten Weg bis in die Eigenheimsiedlung mit dem Fahrrad zurückzulegen. So behandelt man gute Geschäftspartner dachte ich mir und winkte Frau Dr. Scharfenorth beim Einsteigen zu.

Eigentlich habe ich das mit dem Weihnachtsmannspielen ja nur deshalb angefangen, weil meine kurz zuvor abhanden gekommene Frau verfügt hatte, dass unsere Kinder unter ihrem Weihnachtsbaum besser aufgehoben seien als in meinen, ihrer Meinung nach etwas ungewissen Verhältnissen. Damals hatten mich Freunde gefragt, ob ich denn nicht Lust hätte, Heiligabend für ihre Kinder der Weihnachtsmann zu sein. Hinterher, wenn die Großeltern verschwunden seien, könne man ja noch gemütlich beisammen sitzen. Und da so einer wie ich Weihnachten auch irgendwo hin muss, habe ich spontan zugesagt. Außerdem hatte ich mal ein komplettes Theologiestudium absolviert, und kann eine gewisse pastorale Art zuweilen sowieso nur schwer unterdrücken.

Im darauffolgenden Jahr haben meine Freunde den Weihnachtsmann dann gleich noch an eine Bekannte im Haus vermittelt, deren Mann kürzlich bei einer anderen eingezogen war. Auch bei diesen Kindern kam ich als Weihnachtsmann ganz gut an. Außerdem wurde mir noch ein verschlossener Briefumschlag überreicht. Zunächst hatte ich an etwas anderes als Geld gedacht. Nun aber auf den Geschmack gekommen und durch die Kinder in meinem Selbstbewusstsein bestärkt, ging ich im dritten Jahr dazu über, meine Tätigkeit zu professionalisieren. Ich setzte eine Anzeige in die Zeitung: Lieber Weihnachtsmann kommt zu Ihnen nach Hause und zu Ihrer Weihnachtsfeier ins Büro. Seitdem konnte ich mich über einen Mangel an Anrufen nicht mehr beklagen. Vom Kindergarten über die Dresdner Bank bis ins Altersheim bin ich gekommen. Und überall wurde der Weihnachtsmann mit höchstem Respekt behandelt. Selbst die alerten Banker in ihrem schmucken Glaspalast standen mir Rede und Antwort, wenn es daran ging, gute und schlechte Taten des vergangenen Jahres zu resümieren. Man muss die ehrfürchtige Attitüde der ansonsten so nüchternen Zeitgenossen nicht mit der in früheren Zeiten noch verbreiteten Ehrfurcht vor dem Heiligen verwechseln, aber einem, der es im profanen Leben bislang kaum zu bürgerlichem Erfolg gebracht hat, kann die Ehrerbietung schon etwas irritieren, die ihm von denen, die auf der Gewinnerseite des Lebens stehen, mit einem Mal entgegengebracht wird, wenn er sich einen roten Mantel überzieht, einen Wattebart anklebt und eine Rute bei sich trägt.

Als Weihnachtsmann bin ich also weltliches Christkind geworden. Einmal ließ ich mich mit einigen Kollegen von einem Kaufhaus anheuern. Zunächst wurden wir von einer mehrspännigen Kutsche wie Popstars durch die Leipziger Innenstadt chauffiert. Die einkaufende Bevölkerung stand Spalier. Der Einzug der Weihnachtsmänner als säkularisierte Variante des Einzugs in Jerusalem. Kinder winkten uns mit offenen Mündern zu, eine japanische Touristengruppe richtete ihre Kameras auf uns. Während meine Kollegen Devotionalien in Form von Schokoladenweihnachtsmännern, Nüssen und Orangen an das umstehende Volk verteilten, war mein einziger Gedanke: Hoffentlich erkennt mich hier niemand.

Am aufregendsten aber ist es noch immer an Heiligabend. Als Weihnachtsmann komme ich dann nämlich in das Allerheiligste, in die Gegenwelt der modernen Gesellschaft, die Familie. Wenn der Weihnachtsmann zum zentralen Ereignis des Festes, der Bescherung, in deutschen Wohnzimmern eintrifft, am 24. Dezember sind es in der Regel acht bis zwölf, richten sich vielfältige und nicht selten einander widersprechende Erwartungen auf ihn. Da sollen nicht nur Geschenke verteilt, sondern vor allem Kinder pädagogisiert, Gedichte (das Repertoire beschränkt sich in der Regel auf "Lieber guter Weihnachtsmann") angehört und in kirchlichen oder nur bürgerlichen Elternhäusern Lieder und Flötenstücke ertragen werden. Man verlässt solche Orte satt von lauter Liebe und mit einer tiefen Sehnsucht nach Einsamkeit und schlechter Laune.

Auf ganz andere Weise prekär wiederum sind jene Versuche, den Weihnachtsmann bei der Ausübung seiner hoheitlichen Pflichten nach eigenmächtiger Dramaturgie zu reglementieren. Die Spannung zwischen lauwarmer Weihnachtsmannfolklore und dem Versuch, den gutmütigen Alten für elterliche Erziehungsinteressen zu missbrauchen, ist gar nicht so einfach unter Kontrolle zu halten. Bei der Familie W. zum Beispiel gibt es seit Jahren schon ein ominöses Goldenes Buch, in dem angeblich das ganze Jahr über die guten und die schlechten Taten von Stefan und Franziska festgehalten werden. Beim Eintreffen des Weihnachtsmanns wird ihm dieses vom Herrn des Hauses diskret zugespielt. Vorher war die Familie W., wie jedes Mal, so auch in diesem Jahr, an Heilig Abend vor der Bescherung noch in der Kirche. Bereits im ersten Jahr war mir während des damals von Herrn W. eigens anberaumten Vorstellungsgespräches für die Position des Weihnachtsmanns in seiner Familie zur Kenntnis gegeben worden, dass man in der Familie W. noch Wert darauf lege, Weihnachten in die Kirche zu gehen. Als der Weihnachtsmann seinerzeit durchblicken ließ, dass auch er schon mal eine Kirche von innen gesehen hat, schien dies seine Chancen auf die von Herrn W. zu besetzende Stelle zu erhöhen.

Aber zurück zum hell erleuchteten Weihnachtszimmer der Familie W., in dem sich auch die säkularen Handlungen nach einer festgefügten Liturgie vollziehen. Es beginnt damit, dass der Weihnachtsmann angehalten ist, seine schneematschnassen Stiefel auszuziehen. Dann hat er Stefan und Franziska eine öffentliche Beichte abzunehmen. So wie sich mit dem Heranwachsen der Kinder auch deren Glauben an den Weihnachtsmann verändert, kam im vergangenen Jahr nun aber hinzu, dass Stefan sich während der heiklen Prozedur unerwartet renitent zeigte. Auf dem Höhepunkt des von Frau W., einer ebenso resoluten wie kräftigen Dame in den Vierzigern, zunächst souverän geleiteten Verfahrens sollte Stefan, der mittlerweile acht Jahre alt war, dem Weihnachtsmann versprechen, künftig besser zu hören. Mit besser hören war gemeint, dass Stefan den Anweisungen der Oma, die eine schrecklich zerknirschte Miene aufgesetzt hatte, nicht immer widersprechen solle. Stefan aber weigerte sich, ein solches Versprechen abzulegen. Ohne auch nur ein Wort an diejenigen zu richten, die erklärtermaßen doch nur sein Bestes wollten, blickte er fortwährend auf den Teppich. Nun wurde es auch den anderen ungemütlich, stand doch der Erfolg der gesamten Veranstaltung auf dem Spiel. Fatalerweise war es das Amt des Weihnachtsmanns, in dieser verfahrenen Situation eine Lösung herbeizuschaffen. Am liebsten hätte ich mit Stefan gemeinsame Sache gemacht. Außerdem schaute der Junge nun doch ab und an verstohlen zu dem Sack des Weihnachtsmanns, aus dem die Geschenke ja schon üppig herausquollen. Um sich nicht um das vereinbarte Honorar zu bringen, aber auch ohne seine Sympathie für Stefans tapferen Widerspruchsgeist aus den Augen zu verlieren und ihn vor der Zudringlichkeit der Erwachsenen zu befreien, erwähnte der Weihnachtsmann, dass er in seinem Sack ja nicht nur Geschenke für Stefan und Franziska habe, sondern auch für die Erwachsenen. Vielleicht hofften sie ja, dass der Weihnachtsmann die Situation deeskalieren würde. Zu seiner, aber vielleicht auch ihrer Rettung ließen sie sich jedenfalls auf sein Geplänkel ein, beantworteten die üblichen Fragen, ob denn auch die Eltern und Großeltern artig gewesen seien, zeigten sich jedoch bei alledem nicht weniger missmutig als Stefan. Immerhin aber brachten sie den Jungen mit ihrem bemühten Geplätscher noch dazu, auf dem Keyboard "Alle Jahre wieder" zu spielen. Der Weihnachtsmann vernahm es und verschwand, froh, dass das Christkind nur ein Mal im Jahr zu dieser Familie kommen muss.

Wesentlich fröhlicher geht es zum Glück in den heidnischen Arbeiter- bzw. Arbeitslosenmilieus zu, in denen der Weihnachtsmann auch am häufigsten nachgefragt wird. Ohnehin hat er in diesen ein außerordentlich vielgestaltiges Aufgabenfeld zu bewältigen: mitunter bereits angetrunkene Väter sind zur Räson zu rufen, auf dem Sofa eingeschlummerte Omas zu wecken, hektische Mütter zu beruhigen (gilt milieuübergreifend). Es kann aber auch vorkommen, dass der Weihnachtsmann sich vor Übergriffen alleinerziehender Mütter schützen oder, was vergleichsweise harmlos ist, seiner Tätigkeit bei laufendem Fernsehapparat nachgehen muss. Einmal, aber das war nun wieder in einem recht bürgerlich geordneten Haushalt, kam es sogar vor, dass er mitten in ein offenes Gefecht zwischen Mutter und Vater geriet, bei dem die Mutter heulend vom Kampfplatz unter dem Weihnachtsbaum floh. Für solche Fälle gibt es im Beichtspiegel des Weihnachtsmanns keine Anweisung, so dass auch er das Feld unverrichteter Dinge und mit ein paar hilflos aufmunternden Worten verließ. Kalt gelassen hat es ihn nicht.

Allerdings, das wollen wir nicht unterschlagen, kommt es, selten zwar, ab und an aber doch vor, dass der Weihnachtsmann eine gute Stube betritt, in der eine stille Freude wohnt. Dann wird es ihm für einen Moment warm ums Herz. Er bleibt ein Weilchen, schwatzt mit den Leuten, trinkt mit ihnen und zieht seiner Wege. Bis zum nächsten Jahr.


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