Bedrohlich schwingen die Äste im Nachbargarten hin und her, als ich auf dem Smartphone die Bahn-App öffne. Ein dickes, weißes Ausrufezeichen in rotem Kreis macht mir deutlich, dass das nichts wird mit meinem 15.03-Uhr-Zug. „Warnung: Sturmtief“, zeigt mir die Applikation an. Störenfried Eberhard hat einen Baum auf meine Strecke geworfen. Da ich zum Geburtstagskaffee in der Nachbarstadt eingeladen bin, schwinge ich mich auf mein Rad und teste vorsichtig die Lage.
Bald bin ich am Moselradweg angekommen, der zentralen, weil einzigen Radwegverbindung zwischen der kleinen Großstadt Trier und dem benachbarten Kleinstädtchen Konz. Bei dem starken Wind ist es kein Spaß, doch ich komme voran. Allein: Es ist ein permanentes Ausweichmanöver. Zu den vi
Zu den vielen Wurzelschlaglöchern und anderen Stolperfallen gesellen sich abgebrochene Äste. Es ist eine unheilvolle Abfolge von Gefahrenstellen, die von den zusammengewehten Laubteppichen verdeckt werden. Obwohl hier viele Pendler unterwegs sind, wird das auch nach Tagen nicht geräumt sein.Winterdienst? Vergiss esWenige Wochen zuvor war der Weg vereist und dadurch kaum befahrbar. Als ich online bei Facebook kritisiert hatte, dass Radspuren nicht vom Winterdienst beachtet werden, hatten mir manche zugerufen: „Fahr‘ doch auf der Straße!“ Nach einer Schlitterpartie entschloss ich mich also, auf der benachbarten Bundesstraße zu radeln. Sie liegt höher als der Radweg, weshalb sie von Hochwasser und Baumschäden stets verschont bleibt. Winterdienst und Wartung würden für stressfreies Fahren sorgen – wären da nicht die vielen Autofahrer, die mich in rasantem Tempo und bei lächerlichem Abstand überholen oder mir mit lautem Hupen zu verstehen geben: „Verpiss dich, du hast hier nichts verloren!“Ich wohne in einer ländlichen Region und sehe mich als Verkehrswende-Verfechter. Wohlgesonnene betrachten mich als einsamen Rufer in der Provinzwüste, als Romantiker inmitten reaktionärer Straßenverhältnisse. Viele Autofahrer sehen in mir nur den provozierenden Kampfradler, der sich erdreistet, nicht ganz rechts und unauffällig am Straßenrand zu radeln, wo man ihn ungestört überholen kann. Unser Haushalt hat kein Auto; wenn ich zu Festen und Feiern in mein 30 Kilometer entferntes Heimatdorf radle, ernte ich irritierte Blicke wie ein Zirkuselefant, der durch die Stadt spaziert.Ähnlich ergeht es meinem Kumpel Karsten. Sein längst stillgelegter 2er Golf, Baujahr 1985, steht moosbewachsen wie ein Relikt aus einem früheren Leben vor seiner Garage. Dort werden nun die wertvollen Liegeräder für Vater und Tochter sowie ein E-Bike aufbewahrt. Obwohl er in einem Dorf 15 Kilometer und 300 Höhenmeter von Trier entfernt wohnt, erledigt der freischaffende Film- und Theaterproduzent fast alle Wege mit dem Velo; ein Auto leiht er selten. Wozu auch? Modernes Video-Equipment passt sehr gut in seine Taschen.Das Fahrrad als Mittel, um bei fast jedem Wetter von A nach B zu kommen, das ist in weiten Teilen von Rheinland-Pfalz eine exotische Vorstellung. In vielen Städten ist das schon anders; hier gibt es zunehmend mehr Menschen, die das Rad als praktischstes Fortbewegungsmittel erkannt haben. Und obwohl der Radverkehrsanteil in der 115.000-Einwohner-Stadt Trier bereits heute bei neun Prozent liegt, führen Radfahrer noch immer ein Nischendasein. Es gibt viel zu wenige und viel zu wenig gewartete Radwege, die viel zu oft im Nichts enden. Es gibt ungeschützte, schmale Radspuren entlang viel befahrener Straßen, auf die sich nur hartgesottene Alltagsradler trauen. Trotz einer bemühten Verwaltung gibt es nach wie vor Flickschusterei, Planlosigkeit und Ignoranz.Nirgends manifestiert sich die Trierer Tristesse für Radfahrer wie Fußgänger deutlicher als in der Karl-Marx-Straße. Ach, richtig – da war doch was – kam der revolutionäre Philosoph dort nicht 1818 zur Welt? Fast richtig – sein Geburtshaus-Museum steht in der Brückenstraße, die jedoch irritierenderweise erst im weiteren Verlauf, also dort, wo sie auf die namensgebende historische Römerbrücke zuläuft, in Karl-Marx-Straße umbenannt wurde. Die enge, zugeparkte Gasse ist eine Zumutung nicht nur für die chinesischen Reisegruppen, die sich für ein Foto vom Museum auf einen schmalen Bordstein quetschen müssen.In den keine 170 Kilometer entfernten Niederlanden hätte man die Straße wohl längst autofrei gestaltet – in Trier ist das bloß eine von „linksgrün versifften Gutmenschen“ geträumte Vision. Hier kämpft die AfD im bevorstehenden Kommunalwahlkampf für eine „bürgerfreundliche Mobilität“. Bürger sind Radfahrer in dieser Denkweise nur, wenn sie dem Autofluss nicht in die Quere kommen.Jeder Autofahrer, der auch nur einen Bruchteil des vorgesehenen Mindestabstands beim Überholen von 1,50 Metern einzuhalten gedenkt, erkennt sofort, dass man hier an keiner Stelle Radfahrer überholen kann, ohne sie einer Sturzgefahr auszusetzen. Doch die Konsequenz, einfach nicht zu überholen, sondern sich für eine halbe Minute zu gedulden, ziehen diese Unbelehrbaren nicht – warum auch, wenn man doch schnell über den Fußweg brettern kann? Aus den Hausfluren wird just in diesem Moment schon keiner kommen! Schon mehrfach, so berichtete mir eine Mutter, habe sie ihren kleinen Sohn dort erst in letzter Sekunde wegziehen können.Seit 1991 wird Rheinland-Pfalz von der SPD regiert. Im Mobilitätsbereich macht das kaum einen Unterschied zur CDU-Dominanz früherer Jahrzehnte. Gigantische Summen fließen in Autoinfrastrukturprojekte wie den Hochmoselübergang, Deutschlands größte Brückenbaustelle. Kosten: mindestens 500 Millionen Euro.Die Grünen, seit acht Jahren im Kabinett vertreten, schaffen es nicht, solche automobilen Großprojekte zu verhindern. Von einer Verkehrswende ist in dem Pendler-Flächenland nichts zu spüren. Radwegebau war über Jahrzehnte nur ein Nebenaspekt der Tourismusförderung, weshalb großartige Fluss- und Bahntrassenwege entstanden. Auf 16.900 rheinland-pfälzischen Kilometern aus Bundes-, Landes- und Kreisstraßen gibt es nur 1.900 Kilometer Radwege. Immerhin wird nun geprüft, ob ein paar Radschnellwege entstehen sollen.Die Hoffnung freckt zuletztMit Erstaunen, Bewunderung, manchmal auch mit Neid blicken Trierer Radfahrer nach Berlin, wo der „Volksentscheid Fahrrad“ das Gesicht der Stadt verändert. Auch in einem knappen Dutzend anderer Kommunen hat es schon Fahrradinitiativen aus der Bevölkerung gegeben. Warum also nicht auch in Deutschlands ältester Stadt?Entsprechende Überlegungen gibt es, doch den meisten Rad-Aktiven steckt noch die Ernüchterung über einen Volksentscheid anderer Art in den Knochen. Nach dem Willen der Verwaltung hätte eine Tankstelle, die in den 1950er Jahren mitten in eine historische Allee hineingepropft wurde, 2017 abgerissen werden sollen. Dort sollte angesichts des aggressiven Verkehrs auf der vierspurigen Straße ein Radweg entstehen. Doch eine Bürgerinitiative setzte einen Bürgerentscheid zum Erhalt der Tanke durch. Die Möglichkeit, nachts Kippen, Bier oder auch Benzin zu kaufen, war denn auch deutlich mehr Trierern wichtig als ein sicherer Grünstreifenradweg.Es war ein Sieg für jene Stimmen, die bei jeder neu angelegten Radspur poltern: „Jetzt reicht es aber langsam, wir wollen keine Parkplätze mehr opfern!“ Uns Rad-Aktivisten ist klar: Eine große Vision wie das Berliner Radgesetz werden wir in Trier nicht durchsetzen können. Und auch, wenn wir in den kalten Monaten meist bibbern müssen, ob die Mindestzahl von 13 Fahrern bei der „Critical Mass“ zustande kommt, geben wir nicht auf. Wir erobern uns unseren Platz auf der Straße zurück.Am 9. März haben wir bei einer „Poolnudelparty“ ein Zeichen für mehr Rücksichtnahme beim Überholen gesetzt. Mit den Kunststoffstangen aus dem Schwimmbad am Gepäckträger sind wir durch die Stadt gefahren. Mit Erfolg: Unsere aufgepinselten Botschaften wie „Abstand ist gut für die Beziehung: mindestens 1,5 Meter“ oder „Eine Armlänge Abstand ist nicht genug!“ kamen bei vielen Passanten gut an.Und wir gehen in Gremien, Ausschüsse, Arbeitskreise. Ein Erfolg dieser Arbeit ist die 2018 eröffnete erste Trierer Fahrradstraße. Zwar ist sie vollgestopft mit parkenden Autos und viel zu kurz. Aber sie ist ein Anfang. Und sie hat mir ein Aha-Erlebnis verschafft: Ich beobachtete eine Mutter, die mit ihrer vier, fünf Jahre alten Tochter dort unterwegs war. Nicht in Habachtstellung, sondern völlig entspannt nebeneinander fahrend, redend und lachend, während ein Auto hinter ihnen ganz brav wartete, anstatt – wie sonst üblich – zu überholen.Der Moment zeigte mir, dass es auch fernab der Metropolen möglich ist, lebenswerten Stadtraum zu schaffen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, wie mir bei einem Kneipengespräch deutlich wurde. „Haste gehört“, beklagte sich da ein Mann: „scho wieder en neuen Radweg. 20 Parkplätze han se weggemacht in der Hindenburgstraß!“ Sein Gesprächspartner sah das ähnlich: „Ja, scheiß Radfahrer! Hoffentlich fahren se jeden Tach einen freckt!“ Das ist moselfränkisch für „kaputt gehen“. Die überwiegend positiven Reaktionen auf die „Poolnudelparty“ geben mir aber Zuversicht. Die Hoffnung freckt zuletzt.Placeholder authorbio-1
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