Homeschooling entwickelte sich in Corona-Zeiten zum geläufigen Begriff für die Beschreibung eines pädagogischen Ausnahmezustands. Das Wort steht nunmehr für zugesperrte Schulen und überforderte Eltern, für chancenlose Kinder aus benachteiligten Familien und für pädagogisches Fachpersonal, das sich mit der mangelhaften digitalen Infrastruktur auseinandersetzen muss.
Eigentlich aber bezeichnet Homeschooling ein Phänomen, das mit hilflosen Improvisationen im Krisenmodus wenig zu tun hat. Es geht um Eltern, die sich bewusst dem staatlichen Bildungsauftrag entziehen wollen. Die bekanntesten deutschen Schulverweigerer dieser Art leben bei Darmstadt im Odenwald. Petra und Dirk Wunderlich sind religiöse Fundamentalisten. Ihre Kinder mit den biblischen Namen Machsejah, Joshua, Hananjah und Serajah wollen sie vor jeder antichristlichen Einflussnahme bewahren. Schädliche Wirkungen fürchten sie vor allem in der Institution Schule. Als 2005 die älteste Tochter sechs wurde, weigerten sich die Eltern, der gesetzlichen Schulpflicht nachzukommen. Stattdessen unterrichteten sie ihr Kind zu Hause, wie später die jüngeren Geschwister.
Über Jahre hatte die Familie die Briefe der Behörden ignoriert, dann stand 2013 die Polizei vor der Tür. Das Jugendamt nahm den Jungen und die drei Mädchen „in Obhut“, es konstatierte „Kindeswohlgefährdung“. Nach wenigen Wochen durften die Kinder zurückkehren, die Eltern hatten zugesichert, sie nun doch eine öffentliche Schule besuchen zu lassen. Die Einigung war nur von kurzer Dauer. Bald blieb der Nachwuchs wieder daheim, jahrelange Prozesse folgten. Sie gipfelten 2017 in einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der konnte weder eine Missachtung des Privatlebens noch eine Beschränkung der Glaubensfreiheit erkennen und wies die Klage der Eltern ab.
Bis zum Sorgerechtsentzug
Die Wunderlichs und ihr Kampf gegen die „moderne Sklaverei“, wie sie Vater Dirk bezeichnet, sind ein extremes Beispiel. Doch auch andere Familien, die zu Hause eine pädagogische Parallelgesellschaft organisieren, riskieren drastische Sanktionen, von Bußgeldern bis zum Entzug des Sorgerechtes; in einigen Bundesländern droht gar eine Freiheitsstrafe. Frankreich und Großbritannien, auch die USA und Kanada haben weit weniger strenge Regeln. In Österreich gibt es lediglich eine Bildungspflicht, der Lernort dagegen ist nicht strikt festgelegt. Die zu Hause unterrichteten Kinder müssen ihren Wissensstand allerdings einmal pro Jahr in Tests beweisen. Auf solche internationalen Beispiele berufen sich schulverweigernde Eltern gerne, hierzulande sind sie aufgrund der eindeutigen Rechtslage bisher eine kleine Minderheit. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages geht von maximal 1.000 „freilernenden“ Familien aus. Bis zu 3.000 Jungen und Mädchen gehen nach den vagen Schätzungen überhaupt nicht zur Schule. Ersatzweise, aber illegal werden sie zu Hause unterrichtet. Erlaubt ist das eigentlich nur, wenn die Kinder nachweisbar dauerhaft krank sind.
Homeschooling war in Deutschland lange die „absolute Ausnahme“, betont Ilka Hoffmann, die im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für den Bereich Schule zuständig ist. Es handele sich meist um „sehr religiöse Eltern oder Menschen aus bildungsbürgerlichen Milieus, die eine Lobby haben und deshalb überproportional in den Medien vertreten sind“. Hoffmann verteidigt den seit 1919 obligatorischen Schulbesuch als wichtige demokratische Errungenschaft: „Wir wollen, dass Menschen dort zusammenkommen und voneinander lernen.“ In ungewohnter Einigkeit mit der GEW argumentiert Heinz-Peter Meidinger, Präsident des konservativen Deutschen Lehrerverbandes: „Kinder, die von Eltern unterrichtet wurden, haben oft keine Leistungsprobleme, aber Schwierigkeiten, sich richtig einzuschätzen, mit Kritik umzugehen und sich auf andere einzustellen.“
Die Verweigerung beruht auf vielfältigen Motiven. Die eher moderaten „Freilerner“, die sich als eigenständiger Verband organisiert haben, werten den Schulzwang als ein Relikt des deutschen Obrigkeitsstaates, sie sprechen von einem „gewalttätigen System“. Andere, klar nach rechts orientierte Strömungen lehnen die öffentliche Bildungseinrichtung Schule vor allem deshalb ab, weil diese von einer „rot-grün versifften“ Pädagogik geprägt sei. Evangelikale Gruppen wenden sich gegen das Lehren der Evolutionstheorie im Biologieunterricht; gemeinsam mit der Zivilen Koalition der AfD-Politikerin Beatrix von Storch machen sie gegen neue sexualpädagogische Konzepte mobil. Homo- und Transsexualität betrachten sie als Abweichung und Krankheit. Auf Veranstaltungen wie „Demo für alle“ oder „Marsch für das Leben“ finden Abtreibungsgegnerinnen, christliche Fundis, Rechtspopulisten und Neonazis zusammen.
Gemeinsamer ideologischer Kern ist ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Staat. Dieser Anti-Etatismus, der sich in extremer Form in Gruppen wie den Reichsbürgern, den Identitären oder in religiösen Sekten findet, prägt auch die „Homeschooling“-Szene. Dennoch stößt diese teilweise auf Sympathie in Forschung und Wissenschaft. „Bildungsambitionierte Eltern“, die ihre Kinder zu Hause lernen lassen, würden „kriminalisiert“, behauptet etwa Volker Ladenthin, Professor für Pädagogik an der Universität Bonn. Der Soziologe Thomas Spiegler, der in einer Studie der Theologischen Hochschule Friedensau rund hundert deutsche Freilerner-Familien befragt hat, plädiert ebenso für die Legalisierung des Heimunterrichts.
Ärger ist auch verständlich
Nicht jedes Milieu, das Kritik am öffentlichen Schulsystem übt, ist automatisch von rechten Denktraditionen geprägt. Die Attraktivität alternativer Bildungsanbieter wie Waldorf-, Montessori- oder „freier“ Schulen speist sich, wie schon während der Reformbewegung der Weimarer Republik, aus dem häufig offensichtlichen Kontrast zu ihren staatlichen Pendants. Die Unzufriedenheit mit sanierungsreifen Gebäuden, der Ärger über volle Klassen, zu wenig Personal, demotivierenden Leistungsdruck und frühe Selektion ist verständlich.
Manche gemäßigten Akteure, die schlicht für eine bessere Bildung eintreten, sind sich ihrer problematischen ideengeschichtlichen Schnittmengen durchaus bewusst. Das scheinbar emanzipatorische Wort „Freilerner“ interpretiert den Hausunterricht als autonom gewählte Möglichkeit, sich einer vorgeblichen Indoktrinierung durch staatliche Lehrkräfte zu entziehen. Eine interne Publikation warnt jedoch vor dem Versuch, die eigenen Anliegen strategisch zu vereinnahmen: „Weist möglicherweise das ,Freilernertum‘ eine inhärente Schlagseite auf, die es für esoterische, verschwörungstheoretisch grundierte Positionen anfällig macht?“
Angesichts der ständigen Nutzung und Umdeutung des Freiheitsbegriffs von rechts bewegt sich der Verband in einer heiklen Grauzone. Und trifft auf Bündnispartner, die er sich nicht unbedingt ausgesucht hat. So ließen sich die ultrareligiösen Wunderlichs am Gerichtshof in Straßburg von Anwalt Robert Clarke vertreten. Der ist Direktor der international agierenden „Alliance Defending Freedom“, die sich auf angebliche Verletzungen der Religionsfreiheit spezialisiert hat. Ähnliche Ziele verfolgt die „Home School Legal Defence Association“ aus den USA, die weltweit das Recht auf Privatunterricht zu Hause verteidigen will. In dieser fragwürdigen Organisation, beliebt in Tea-Party-Kreisen und bei Altright-Anhängern, fand die strenggläubige Familie aus Hessen langjährige Unterstützer.
Kommentare 5
Informativer artikel, in dem der autor allerdings die c-realität mit der behandelten hauslehre unberechtigt und sinnwidrig vergleicht.
Bei der hauslehre, also bei der selbstgewollten, mehr oder weniger systematischen beschulung von kindern durch ihre eltern geht es um jene, die das wollen und die die entsprchenden lehrmittel selbst beschaffen bzw. herstellen - hier sind defizite (lehrstoff der bewusst nicht vermittelt wird) gewollt.
Beim "Homeschooling" infolge politischer entscheidungen im zusammenhang mit der C-seuche ist es jedoch komplett anders. Hier stellen nicht die eltern die lehrkräfte und lehrmittel und schon gar nicht die inhalte, sondern die schule versucht aus der ferne lehre durchzuführen. Wer aber nicht die dazu nötigen apparaturen hat und wer den schulstoff als eltern selbst nicht versteht und nicht zu vermitteln besteht, muss zusehen wie seine kinder mit homeschooling à la C schnell in ein enormes bildungsdefizit geraten.
Ergo, selbstgewähltes homeschooling und durch die C-politik erzwungenes homeschooling sind also zwei völlig verschiedene - nicht vergleichbare - dinge.
Genau so ist es! Homeschooling ist eine denglische Beschönigung des alten Worts "Privatunterricht". Oder meint es Hausarrest?
Können Sie sich ein 'Home kindergardening' vorstellen? Na eben! Eine krasse Propagandalüge!
Der Privatunterricht war in vordemokratischer und vorindustrieller, Zeit üblich - für die höheren Schichten. Andere konnten sehen, wo sie bleiben, - so wie heute wieder - oder mussten Kinderarbeit leisten.
Religiöse und politische Fundamentalisten aller Länder lieben den Privatunterricht und auch seine "Digitalisierung".
Was bedeutet die "Digitalisierung", das andere Propagandawort, welches übrigens die großen Konzerne schon seit Jahren predigen:
Können die Lehrer Zoom oder Teams (oder was immer) schlechter bedienen als Millionen andere Arbeitnehmer?
Vielmehr haben Lehrer gar kein Problem, ihre Arbeitsblätter "digital" zu versenden und sich danach wieder in ihrem Wohnzimmer auszuruhen. So erleben es momentan die meisten Kinder.
Die Idee, das Ganze einfach "Homeschooling" zu nennen, entstand, weil der Staat die Schulpflicht nicht mehr gegen die Lehrer durchsetzen kann und will. Wir erinnern uns noch an das Gezeter der Lehrer im Land Berlin, als nach Weihnachten die Schule wieder beginnen sollte, und sich der Regierende Bürgermeister Müller entschuldigen musste, er habe es nur versucht. (Immerhin hat er es versucht!)
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Unsere Kinder bezahlen mit lebenslangen Schäden für das jahrelange Warten auf die Wirkung von Impfstoffen ("Homewaiting" oder "Lockdown" genannt) - bei hohen Infektionsquoten.
Der Hirnforscher Gerald Hüther warnt vor dramatischen Konsequenzen der Corona-Schutzmaßnahmen für die soziale und neurobiologische Entwicklung von Kindern.
Ein "Notabitur" gab es zuletzt im 2. Weltkrieg und heute wieder. Dagegen sind in Wuhan die Schulen seit März 2020 offen, weil und trotzdem dort die Infektionsquote NAHE NULL liegt.
Ich lebe seit vielen Jahren in Frankreich und kenne eine ganze Reihe von Menschen, welche nie zur Schule gegangen sind. Dazu melden die Eltern dem Bürgermeister des Wohnortes diese Entscheidung. Die staatliche Schulbehörde hat dann das Recht, einmal jährlich den Bildungsfortschritt des Kindes zu prüfen. Es gibt in Frankreich mehr als 50 000 Kinder und Jugendliche, welche diesen Weg beschreiten. Es gibt hierfür exzellentes Unterrichtsmaterial von der Schulbehörde. Es ist auch durchaus üblich, dass mehrere Kinder gemeinsam lernen. In Deutschland herrscht Schulpflicht, in Frankreich Bildungspflicht. Ich ziehe das französische Prinzip vor.
Gerne gelesen und meiner Meinung nach, wird dieses SelberunterrichtenvomNachwuchs zunehmen. Die Individualisierung selbst dieses Bereiches ist so perfide einklagbar und da wir sowieso ein Klageland geworden sind ( amerikanische Verhältnisse ),wird es bald spezialisierte Juristen geben, die mit der Schlupflochkennung befasst sein werden. Mich wundert auch nicht, daß die Ausnahmen dann die Regel sein werden. Leider hat Frau Merkel Herrn Hüther nicht gefragt in dieser Ausgangsperrezeit, was -wie- wo- ich schätze,es hat sie schlichtweg nicht interessiert seine Meinung dazu.
Interessiert gelesen- Nachfrage- Wie ist dann das Ergebnis -das französische Ergebnis? Ich verstehe schon,daß Bildungspflicht das Primat ist, denn Schulpflicht stellt nicht zwangsläufig die Bildung in den MITTELPUNKT.
Meine drei inzwischen erwachsenen Kinder kämpfen bis heute mit den tiefen Kratzern und Scharten auf ihren Seelen, welche ihnen speziell durch das deutsche "Bildungs"-System mit seinem in Europa einzigartigen (und weltweit fast ebenfalls!), von den Nazis übernommenen Schul(anwesenheits)zwang und seiner chronisch unzureichenden personellen Ausstattung zugefügt wurde.
Unser "Nesthäkchen" wurde neulich eingeschult - nach drei Wochen war Ende Gelände (erst krank, dann krank - und nun: krank). Die Schulklassen sind - auch wenn sie etwas kleiner sind - viel zu groß, als dass etwas anderes als Konditionierung (statt Lernen) statt finden könnte (Inklusion: "ha-ha-ha"). Kinder verlernen Lernen an diesen armselig ausgestatteten Einrichtungen systematisch, bzw. bekommen sie genau das gelehrt: Sie "erlernen" die stumpfesten menschlichen Bewegungsgesetze in einer vom Kapital getriebenen Ego-Shoooter-Gesellschaft: Hauptsache voller Kühlschrank, fettes WLAN, fettes Auto, Parkplätze und Autobahn (nebenbei: hat eigentlich schon mal jemand diese bräsig-spießigen Schulbücher gegendert?..)
Das ist nicht besonders überraschend, aber für neue Menschen, für "Kurze", oft aus Liebe und mit Hoffnung in die Welt Gesetzte und zunächst damit bekannt Gemachte schon ein ziemlicher, lebenslang traumatisierender Hammer.
Ein (auch sozial tatsächlich und einfach duchsetzbares) R e c h t auf Bildung (wie etwa in Kanada) wäre m.E. zeitgemäß und angemessen. Diese unbedingte preußische Bildungspflicht mit Schulanwesenheitszwang können sich Linke, AfD und SPD einstweilen dahin schieben, wo es nie Tag wird. Von der asozial grundierten Bildungs-Rampe der Grünen, der FDP und der Union, welche auf das gegebene (und von den Nazis gerne geerbte) System aufsetzt, ganz zu schweigen.
Ich teile zwar nicht Gerald Hüthers Diagnose, da er personalisiert und institutionalsiert, statt das System insgesamt und als solches in Frage zu stellen, aber die Symptome, die er aufzählt sind schon beeindruckend:
https://www.stifterverband.org/video/huether_schule_und_gesellschaft_radikalkritik
(Video von dort, ohne, bzw. mit weniger Google: https://yewtu.be/watch?v=EpIXYHAh3cQ)